Sensation im Verborgenen

■ Die Staats- und Universitätsbibliothek ersteigerte ein unbekanntes Manuskript Hans Henny Jahnns / Beinahe wäre die frühe Fassung des „Perrudja“ übersehen worden

Manche Sensation findet im Verborgenen statt. Während vor kurzem die Tatsache, daß ein mittelmäßiger national-konservativer Schriftsteller wie Ernst Jünger seinen „Nachlaß zu Lebzeiten“ verkaufte, die Herzen unserer einflußreichen Feuilletonisten höher schlagen ließ, wäre es beinahe übersehen worden, daß in Hamburg ein bislang unbekanntes Manuskript von Hans Henny Jahnn für den vergleichsweise geringen Preis von 20.000 Mark auf einer Versteigerung angeboten wurde.

Bei aller Bescheidenheit muß dieser Handschrift eine außerordentliche Bedeutung beigemessen werden, die weit über das rein literaturwissenschaftliche Interesse hinausreicht. Es geht um nicht weniger als den Einfluß James Joyce' auf die experimentelle Literatur der Weimarer Republik, deren Errungenschaften in der Folge der NS-Kulturpolitik gründlich vergessen wurden. Mit Joyce' Ulysses ist wohl jeder auch nur halbwegs bedeutsame europäische Roman unseres Jahrhunderts einmal verglichen worden. Kaum ein Roman aber wird in den verbreiteten Literaturgeschichten in einen so engen Zusammenhang mit dem epochalen Werk des „großen Iren“ gesetzt wie Hans Henny Jahnns Perrudja aus dem Jahr 1929. Ohne daß es sich bisher an den Handschriften überprüfen ließ, behaupten Literaturkritiker und -wissenschaftler seit mehr als einem halben Jahrhundert einhellig, Jahnn habe seinen Perrudja unter dem Einfluß Joyce' grundlegend verändert. Die Urteile reichen vom Lob der kongenialen Modernität bis hin zum Vorwurf des Plagiats.

Klug bis zum Rausch

Außer Frage, Jahnn liebte das Buch von Joyce. Doch seine im letzten Jahr erstmals veröffentlichten Briefe beweisen, daß jene Abschnitte des Perrudja, die bereits in den 60er Jahren von einigen Doktoranden als Joyce-Einflüsse ausgewiesen wurden, von Jahnn bereits konzipiert wurden, lange bevor er Ulysses gelesen hatte. Vorsicht bei der vorschnellen Vergabe von Etiketten ist geboten. Literaturgeschichte verläuft nicht linear. „Dieselbe Zeit kann unabhängig voneinander Ähnliches, ja Gleiches an verschiedenen Stellen erzeugen“, schrieb Alfred Döblin einmal.

Mit der neu entdeckten Handschrift liegt erstmals die früheste Fassung des Perrudja nahezu vollständig vor. Jetzt kann die Entstehungsgeschichte des Romans endlich jenseits von freien Spekulationen nachgezeichnet werden. Es ist an der Zeit, den literaturgeschichtlichen Ort eines der wichtigsten Prosawerke der 20er Jahre neu zu bestimmen, über das Klaus Mann bereits 1930 schrieb: „Das Buch ist klug bis zum Rausch, seine Kritik streng wie ein Gerichtstag.“ Die Romanliteratur unseres Jahrhunderts ist nicht so reich an Glanzlichtern, als daß auf Perrudja verzichtet werden könnte.

Zeitlebens klagte Jahnn über das Schicksal, daß der Wert bedeutender Literatur meist erst nach dem Tod ihrer Verfasser erkannt wird. Es ist allein dem großzügigen Einsatz einiger Privatpersonen zu verdanken, daß das Manuskript für den in der Staats- und Universtitätsbibliothek aufbewahrten Jahnn-Nachlaß gesichert werden konnte. Aus eigenen Mitteln hätte es die Staatsbibliothek nicht ersteigern können.

Die in Hamburg lebenden Künstler werden von der Hansestadt wie zu Jahnns Zeiten kaum unterstützt. Doch eines ist neu: Heute kümmert man sich nicht einmal um die bereits Gestorbenen. Daß Jahnn einer der wichtigsten Vertreter der literarischen Moderne ist, wird spätestens seit den Feierlichkeiten anläßlich seines 100. Geburtstages im letzten Winter kaum noch bestritten. Daß die Hansestadt dennoch nichts für die Pflege seines Werkes tut und den Haushalt ihrer Bibliotheken immer weiter kürzt, ist ein Skandal, auf den nicht oft genug hingewiesen werden kann.

Jan Bürger

Der Autor ist Mitarbeiter der „Arbeitsstelle Hans Henny Jahnn“ an der Universität Hamburg und Mitherausgeber der Briefe Hans Henny Jahnns. Im Herbst dieses Jahres wird der von ihm herausgegebene Briefwechsel zwischen Jahnn und Ernst Kreuder erscheinen.