Brücken zwischen den Welten

Armut und Reichtum, Dritte und Erste Welt treffen mitten in Europa aufeinander. An der deutsch-polnischen und der deutsch-tschechischen Grenze. Die einst unbedeutende Trennungslinie zwischen sozialistischen Bruderländern gilt knapp zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung als eine der sichersten Grenzen der Welt. Polizei und Bundesgrenzschutz sichern Europas Bollwerk im Osten gegen Schmuggler, Schieber, Schleuser und natürlich gegen Flüchtlinge, die hier versuchen, in ein besseres Leben zu gelangen. Die Dienststelle des BGS in Frankfurt (Oder) ist für siebzig Grenzkilometer zu Polen und Tschechien zuständig. Die Grenzschützer beobachtet haben

Jürgen Gottschlich (Text) und

Christian Jungeblodt (Fotos).

Frühling liegt in der Luft. Noch ist das Gras braun, an einigen Stellen abgebrannt, aber die Sträucher schlagen bereits aus. Das Licht am späten Nachmittag wirkt wie ein Weichzeichner. In der tief stehenden Sonne verschwimmen die Konturen, die Stadt am anderen Ufer sieht malerischer aus, als sie tatsächlich ist. Und die Stimmen, die von jenseits des Flusses tönen, könnten das Echo aus einer anderen Welt sein.

Dort, nur ein paar Schwimmstöße entfernt, liegt das Land der Träume. Es scheint ganz einfach hinüberzukommen – ein Kinderspiel, mit einem Schlauchboot zum Beispiel, in dem man sich gemächlich ans andere Ufer treiben lassen könnte. Ein Treidelpfad schlängelt sich am Fluß entlang, oben auf einem kleinen Damm. Zum Wasser hin führen an vielen Stellen Spuren durch das hoch stehende Röhricht. Von weitem sieht man eine Brücke, die sich im Näherkommen als Eisenbahnbrücke entpuppt.

Erst kurz davor erkennt man, daß hier schon jahrzehntelang kein Zug mehr gefahren ist. Panzersperren blockieren die Gleise, die Brücke ist weiträumig mit Stacheldraht abgebunden. Anders kann es auch zu Warschauer-Pakt-Zeiten nicht ausgesehen haben. Nur, daß die andere Seite damals noch das gleiche Schicksal teilte und der Stacheldraht auf der Brücke lediglich zwei sozialistische Bruderländer voneinander trennte. Das ist heute anders. Knapp zehn Jahre nach dem Fall der deutsch-deutschen Grenze, hat der Stacheldraht wirkliche Bedeutung.

Aus der sozialistischen Binnenabsperrung ist eine Grenze von weltweitem Rang geworden: Hier endet die Dritte Welt. Bis hierher herrscht Armut und drüben, nur zehn Meter weiter, beginnt der Reichtum der Ersten Welt. Der kleine Fluß Neiße, seit dem Potsdamer Abkommen zwischen den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs ein Teil der Grenze zwischen Deutschland und Polen, ist jetzt die Außengrenze der Europäischen Union, einer der reichsten Wohlstandsinseln der Welt.

Das polnische Gubin, aus dessen Blickrichtung das deutsche Guben so malerisch wirkt, gehört zu einem der bevorzugten Sammelpunkte an dem sich Menschen aus Indien oder Sri Lanka, Armenien oder Georgien, Bulgarien oder Rumänien treffen, um von hier aus den letzten Schritt zu tun, auf dem langen Weg aus Elend, Verfolgung oder schlicht aus Überdruß an den Verhältnissen zu Hause. Die deutsch-polnische und in der südlichen Fortsetzung die deutsch-tschechische Grenze sind die Wasserscheide zwischen dem armen Osten und dem reichen Westen.

Gubin liegt im armen Osten. Auf der anderen Seite ist Guben. Selbst jetzt, im Frühjahr, ist die Neiße eher ein Flüßchen als ein unüberwindlicher Strom. Doch die Idylle trügt. Der scheinbar leichte Übergang ist bereits vielen zum Verhängnis geworden. Nicht nur der Bundesgrenzschutz, nicht nur die Bürgerwehren auf der anderen Seite, die Deutschland vor der Dritten Welt schützen wollen, auch der Fluß erwies sich manches Mal als unüberwindlich. Doch selbst Leichen haben in Deutschland keine Chance. Lokalzeitungen berichten immer wieder, daß die Toten in den Fluß zurückgestoßen werden, um der eigenen Gemeinde die Begräbniskosten zu sparen.

Ende letzten Jahres war die Stadtbrücke für zwei Wochen wegen Reparaturarbeiten für den Autoverkehr geschlossen. Die meisten hier hätten es am liebsten dabei belassen.“ Armin Schuster ist Chef der Grenzschutzinspektion Frankfurt (Oder). Eher beiläufig nimmt er die Meldung seiner Brückenwache entgegen – keine besonderen Vorkommnisse. An diesem Frühlingsnachmittag im März herrscht das normale Gedränge am Stadtübergang zwischen Frankfurt und Slubice. Wir könnten uns in der Fußgängerzone einer beliebigen mittleren Großstadt befinden: Die Leute hetzen nach Hause, die Einkauftstüte in der Hand und den kommenden Ärger mit den Kindern im Kopf. Ganz normale Leute also. Nicht ganz, denn die meisten von ihnen sind Polen. Deutsche zieht es kaum auf die andere Seite: höchstens als Schnäppchenjäger und um billig zu tanken. Auch Schuster fährt nur dienstlich nach Polen, „privat hab ich da nicht viel verloren“.

Armin Schuster kommt eigentlich von der deutsch-französichen Grenze. Obwohl er bereits vor fünf Jahren von dort an den östlichen Brennpunkt versetzt wurde, lebt seine Familie nach wie vor an der Westgrenze. „Mit allen negativen Folgen, die eine so lange Trennung mit sich bringt.“

Schuster, der erst vor einem halben Jahr von Zittau nach Frankfurt (Oder) kam, erlebt das deutsch-polnische Verhältnis nach wie vor als sehr fragil. „Wir müssen hier ungeheuer vorsichtig agieren. Selbst kleine Fehler können erhebliche Auswirkungen haben.“ Die Zusammenarbeit mit den polnischen Kollegen sei zwar gut, aber „wir achten peinlich auf alle Formalien gegenüber den polnischen Behörden“. Kein Vergleich zu der zwanglosen Nachbarschaft mit Frankreich und den französischen Kollegen.

Das gilt nicht nur für den Bundesgrenzschutz (BGS). Auch für die Bevölkerung in Frankfurt ist die deutsch-polnische Nachbarschaft immer noch eine Einbahnstraße, und zwar eine nur mühsam ertragene. Für Frankfurter kommt alles Böse aus dem Osten, aus Asien. Flüchtlinge, Schwarzarbeiter, Einbrecher, Schmuggler, Alkoholiker und Randalierer. „Die Leute hier“, sagt Schuster, „sind enorm verunsichert. Sie fühlen sich belästigt und bedroht. Nicht nur die Polizei, auch der BGS muß sich dieser Situation stellen.“ Zum Beispiel durch eine deutlich sichtbare Präsenz. In der Einkaufszone direkt hinter der Stadtbrücke geht ein Grenzschützer mit einem Kontaktbereichsbeamten der Frankfurter Polizei gemeinsam Streife. Kaum ist davon die Rede, kommt auch schon über Funk eine aufgeregte Meldung: Festnahme von zwei Ladendieben, polnischen selbstverständlich.

„Der Mann“, freut sich Polizeihauptkommissar Müller zuständig für Öffentlichkeitsarbeit, „ist für den BGS die beste Reklame.“ Die hat der Bundesgrenzschutz in Frankfurt aber gar nicht nötig. Mit 1.800 Stellen ist die Grenzschutzdirektion der größte Arbeitgeber in der Stadt. Krisensichere Jobs. „Wer hier gelandet ist“, weiß Müller, „ist froh.“

Für den BGS in Frankfurt gilt, was Mao für seine Guerilla erhoffte: Er bewegt sich in der Bevölkerung wie ein Fisch im Wasser. „Die Zusammenarbeit mit den Anwohnern hier“, erzählt der junge Einsatzleiter Marco Pfeiffer nicht ohne Stolz, „ist hervorragend. Wir bekommen eine Menge Hinweise.“ Getrübt wird diese Zusammenarbeit nur durch Presseberichte, wie vor einigen Wochen über eine Bürgerwehr im südlich von Frankfurt gelegenen Forst. Die Truppe, die angeblich nichts anderes tut, als ihre direkt an der Neiße gelegenen Schrebergärten zu schützen, war aufgefallen, als sie deutsche Jugendliche, unter denen sich auch ein farbiger Junge befand, rüde festhielt, um sie dem BGS zu übergeben. Der mußte dann feststellen daß es sich um Kinder aus dem Nachbardorf handelt, die ausgerechnet auf dem Heimweg von einer Kirchenveranstaltung waren. Die in die Kritik geratenen selbsternannten Sheriffs verteidigten sich mit dem Hinweis, sie hätten schon oft Leute festgehalten und dem BGS übergeben, was der immer gut gefunden hätte.

Davon will Inspektionsleiter Schuster aber nichts wissen. „Hier in Frankfurt“ – Forst gehört zur südlich angrenzenden Direktion Guben/Eisenhüttenstadt – „gibt es keine Bürgerwehren, und der BGS würde auch mit keiner Bürgerwehr zusammenarbeiten. Das sind Auswüchse von Amtsanmaßung die nicht toleriert werden dürfen.“

Doch die Übergänge zwischen Amtsanmaßung, Denunziation, gesetzestreuem Verhalten und besorgten Hinweisen sind fließend. Auch in der Umgebung von Frankfurt (Oder) gibt es Bürgerwehren, die sich nur nicht so nennen, sondern nach einem Konzept aus dem brandenburgischen Innenministerium, „Sicherheitspartnerschaften“ mit den professionellen Ordnungshütern bilden. „Die arbeiten aber nicht mit uns, sondern mit der Polizei zusammen“, betont Schuster. Natürlich ist es dem BGS egal, wenn vermeintlich besorgte Bürger tatsächlich nur miese Denunzianten sind. „Wir bekommen oft Tips über bevorstehende Schleusungen oder Schmuggelware, durch die der Konkurrenz das Geschäft versaut werden soll. Der Kampf um die Marktanteile im Menschen- und Zigarettenschmuggel ist hart.“

Die Dienststelle in Frankfurt bewacht rund siebzig Kilometer grüne Grenze und drei Brücken. Die wichtigste ist die Autobahnbrücke der A12, die am stärksten frequentierte Verkehrsader von West- nach Osteuropa: nach Polen, in die Ukraine, nach Rußland und die anderen GUS-Staaten – letztlich ganz Nordasien. Hier sammeln sich sämtliche Lkws, die den Gütertransport zwischen dem reichen Westen und dem armen Osten besorgen – an der Länge der Schlange, die oft fünfzig Kilometer bis zum Berliner Ring zurückreicht, kann man den Nachholbedarf seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs ermessen. Daß bei den Abfertigungsmassen, die hier täglich anrollen, auch jede Menge geschmuggelt wird, ist gar nicht zu verhindern.

Außer der Stadtbrücke im Zentrum von Frankfurt gibt es dann noch eine Eisenbahnbrücke, die genau zwischen dem Stadtzentrum und der weiter südlich gelegenen Autobahn verläuft.

Der BGS ist rund um die Uhr in drei Schichten im Einsatz. Die Frühschicht beginnt um 6 Uhr, um 14 Uhr ist Ablösung, und die Nachtwache startet um 22 Uhr. Im Keller der BGS-Kaserne, dicht gedrängt zwischen den Spinden, weist der Einsatzleiter vor jeder Schicht die jeweils acht Gruppen ein. Heute referiert Marco Pfeiffer zur Lage. Er gibt Meldungen über gestohlene Kfz weiter und macht auf Besonderheiten aufmerksam, die die Gruppen beachten sollen. Danach wird eingeteilt, welche Gruppe welchen Abschnitt übernimmt. Das Ganze läuft kurz und knapp, ein, zwei Nachfragen, und ab geht's.

Frankfurt (Oder) ist keine große Stadt. Nach zehn Minuten sind bereits die Vororte erreicht und der Einsatzwagen biegt in einen Feldweg entlang der Oder nach Süden. Das Gelände ist ziemlich unübersichtlich. Ein großes Feuchtgebiet, hohe Sträucher, viele kleine Wasserläufe und Pfade quer durch die Büsche. Ein ideales Gelände für Leute, die unerkannt die Seiten wechseln wollen.

Erst am Tag zuvor hat der BGS hier ein Schlauchboot mit Zigarettenschmugglern abgepaßt. Mit Hilfe hochentwickelter Militärtechnik. „Die Überwachung einer so sensibelen Grenze wie der zwischen Deutschland und Polen“, sagt Schuster, „ist überhaupt nur noch mit hohem technischen Aufwand möglich.“ Die wirkungsvollste Waffe des BGS ist eine Wärmebildkamera. Das gute Stück kostet alles in allem fast eine halbe Million Mark und ist in einen Mercedes-Transporter fest integriert.

Wenn man die Heckklappe öffnet, kann die Kamera ausgefahren werden und schwebt dann über dem Wagendach. Die Kamera ist rundum schwenkbar, man kann also in einen Winkel von 360 Grad und bis zu sieben Kilometer weit beobachten. Das Wageninnere ist abgedunkelt, ein Monitor überträgt das Kamerabild nach innen. Das Ergebnis ist verblüffend. Selbst wenn es draußen stockdunkel ist, zeigt der Monitor ein fast gestochen klares Bild. Die Kamera reagiert auf Wärmequellen und zeigt abgestrahlte Wärme in einem weißen Umriß an. Personen sind klar zu erkennen, aber auch Bäume oder Häuser strahlen die am Tag absorbierte Wärme nachts ab und sind gut zu sehen. Ein Schwarzweiß-Fernsehbild in den sechziger Jahren war auch nicht besser.

Im BGS-Abschnitt Frankfurt sind drei solcher Geräte im Einsatz. Ihre jeweilige Position wird geheimgehalten und auch nicht über Funk erwähnt. „Die andere Seite hört uns natürlich ab, das wissen wir schon lange“, sagt Einsatzleiter Pfeiffer.

Die Wärmebildkameras an der Oder sind aber nur ein quasi vorgeschobener Posten der Grenzüberwachung. „Intelligente Fahndung“, beschreibt Schuster sein Konzept, „besteht natürlich nicht darin, möglichst viele Leute an die Grenze zu stellen.“ Zusammen mit dem Zoll operiert der BGS in einem Gebiet bis zu dreißig Kilometer hinter der Grenze. Die größte Trefferquote hat der BGS weit hinter der ersten Linie. Zivile Einsatzgruppen kontrollieren auf den Ausfallstraßen und versuchen so, Schmuggelware abzufangen, bevor sie in den Großstädten verschwindet.

Auch Flüchtlinge haben es noch längst nicht geschafft, wenn sie die Grenze passiert haben. Die meisten werden sogar erst in dem Dreißig-Kilometer-Streifen festgenommen. Vor allem dabei bewährt sich die „Zusammenarbeit mit der Bevölkerung“. Ausländer an einer Bushaltestelle haben kaum eine Chance wegzukommen, ohne daß nicht ein eifriger deutscher Anwohner erst einmal den BGS informiert hätte. Die meisten Fremden versuchen deshalb, mit einem Taxi nach Berlin oder Dresden zu kommen, was mittlerweile besonders im Dreiländereck Deutschland/Polen/Tschechien zu absurden Repressionen gegen Taxifahrer geführt hat.

Nach Angaben des BGS lassen sich Taxifahrer auf deutscher Seite von Schlepperorganisationen anheuern und halten sich auf ein Signal hin bereit, Grenzgänger an abgelegenen Stellen aufzunehmen und aus der Gefahrenzone zu bringen. Einige Taxifahrer sind bereits zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt worden, für Schuster, der lange im besonders betroffenen Zittau stationiert war, ein untrügliches Zeichen, daß die Vorwürfe stimmen. „Wegen nichts wird ja nicht ein Taxifahrer zu zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt und seine Konzession eingezogen. Es gibt Taxis die leben überhaupt nur von diesen illegalen Transporten.“

Andere wissen da ganz anderes zu erzählen. Der Mitteldeutsche Rundfunk präsentierte in einer Reportage einen Taxifahrer, der bereits verurteilt worden war, weil er angeblich die Absicht hatte, Flüchtlinge zu transportieren. Mittlerweile sind die meisten Taxifahrer dermaßen verunsichert, daß sie den Transport von Fremden schon von vornherein verweigern. Der Ostdeutsche Rundfunk schickte zwei nichtdeutsche Reporter ins Länderdreieck, die dort die Erfahrung machen mußten, daß Taxifahrer umgehend die Polizei anriefen, nachdem sie eingestiegen waren.

„Das,“ sagt Schuster, „sind kurzfristige Irritationen. Das sind Taxifahrer, die übertreiben, um den BGS ins Unrecht zu setzen.“ Schuster ist fest davon überzeugt, daß viele Taxifahrer zur Befehlskette von Schmuggler- und Schleuserorganisationen gehören, die nun mal die Hauptgegner des BGS sind.

Geschmuggelt werden rund um Frankfurt hauptsächlich Zigaretten für den Schwarzmarkt in Berlin. Mit den in Rußland gedrehten Malboro läßt sich ein Bombengeschäft machen, die Verdienstspannen sind enorm. Noch lukrativer soll aber der Schmuggel von Menschen sein.

Schleuser werden die Menschenschmuggler genannt, und wenn der BGS über diese Spezies redet, handelt es sich durchweg um Schwerstkriminelle. „Schleuser“, so Inspektionschef Schuster, „sind Teil der Organisierten Kriminalität großen Stils. Das sind Banden, die Menschen, aber auch Drogen oder andere Schmuggelware über ihre Routen und mit ihrer Logistik nach Deutschland und Westeuropa bringen.“ Skrupellos, nur auf Profit bedacht, gehen sie über Leichen.

Das war nicht immer so. Als der „Eiserne Vorhang“ noch existierte, gab es auch schon Leute, die von Ost nach West flüchteten. Und auch damals gab es logischerweise Leute, die ihnen dabei halfen. Damals hießen die Schleuser jedoch Fluchthelfer, und selbst wenn sie für ihre guten Dienste Geld nahmen – was durchaus die Regel war –, galten sie als ehrenwerte Kämpfer gegen den Kommunismus.

Seit der Kommunismus tot ist und der Eiserne Vorhang etwas nach Osten versetzt zur Wasserscheide zwischen Arm und Reich wurde, kennt man nur noch skrupellose Schleuser. Die gibt es sicher auch. Fluchthelfer müssen keine Menschenfreunde sein. Tatsächlich sind schon Flüchtlinge in Containern elendig verreckt, wurden unzureichend bekleidete, völlig orientierungslose Menschen hilflos im Schnee am Oderufer abgesetzt oder gar im Niemandsland vor der Grenze einfach stehengelassen. Doch das ist nicht der Punkt.

Nicht so sehr die Methoden der Fluchthelfer haben sich geändert, geändert hat sich der Blick auf die Flüchtlinge. Statt Kronzeugen gegen den Kommunismus kommen die Flüchtlinge jetzt aus befreundeten Regimen. Nicht verfolgt, sondern sie wollen nur noch unseren Wohlstand. „Wir werden manchmal gefragt, ob wir nicht Mitleid mit den Flüchtlingen haben, wenn sie nach all den Entbehrungen ihrer Flucht von uns geschnappt werden“, erzählt Schuster ganz ungefragt. „Das ist aber nicht die Frage. Wir machen hier unseren Job, und den wollen wir gut machen.“

Je besser der BGS seinen Job macht, um so mehr „Schleuser“ kommen ins Geschäft, weil niemand mehr eine Grenzüberquerung ohne Hilfe schafft. Hat der BGS 1995 an der deutsch-polnischen Grenze noch 238 Personen festgenommen die im Verdacht standen, als Schleuser zu arbeiten, waren es im letzten Jahr bereits 541. Gleichzeitig festgenommen wurden knapp 10.000 Flüchtlinge, von denen über neunzig Prozent umgehend wieder nach Polen zurückgeschoben wurden.

Darüber, wie hoch die Dunkelziffer ist, wie viele Leute es also dennoch schaffen, will man beim BGS nicht spekulieren. Es gibt nur eine Zahl, die man dem gegenüberstellen kann, und das sind diejenigen, denen es trotz der Drittstaatenregelung, die mit dem neuen Asylrecht 1992 verabschiedet wurde, dennoch schaffen, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen. Im letzten Jahr waren das knapp 100.000 Flüchtlinge. Zehn Prozent davon kommen über die Flughäfen, ein Teil über Österreich und Frankreich, der Rest über die Ostgrenze.

Wer woher kommt, läßt sich anhand der Nationalitäten vermuten. Von den an der deutsch-polnischen Grenze Verhafteten kommt ein Drittel aus Südosteuropa, ein Drittel aus der GUS und ein weiteres Drittel vom indischen Subkontinent. Flüchtlinge aus der Türkei und dem Nahen Osten reisen kaum über Polen.

Allein diese Zahlen sind ein untrüglicher Hinweis darauf, daß es mit den ganz großen Schleuserorganisationen, der international perfekt organisierten Kriminalität, zumindest was die Masse der Flüchtlinge angeht, nicht so weit her sein kann. Flüchtlinge aus Südosteuropa und der GUS brauchen für Polen in aller Regel kein Visum und deshalb bis zur deutsch- polnischen Grenze auch keine Schleuserorganisation. Sie gehen schlicht zum Reisebüro und buchen eine Busreise nach Warschau oder Stettin.

Erst direkt an der Grenze wenden sie sich an einschlägige Adressen, um sich die Hilfe eines Ortskundigen zu erkaufen, der sie weiterbringt. Selbst Flüchtlinge vom indischen Subkontinent kommen oft „step by step“, hangeln sich von einer Station zur nächsten. Ein kleiner Teil hat dann tatsächlich sogenannte Luxusschleusungen gebucht. Für rund 15.000 Mark gibt es angeblich Leute, die für zahlungskräftige Flüchtlinge eine Passage nach Westeuropa organisieren, erfolgreicher Grenzübrtritt eingeschlossen. „Das sind Garantieschleusungen“ wie Schuster sie nennt, „die bei Mißerfolg so oft wiederholt werden, bis der Betroffene es geschafft hat.“

Allzu viele Schleuser dieser Güteklasse können es aber nicht sein, zumindest ist es selten gelungen, sie zu überführen. Oberstaatsanwalt Oeser, der beim Landgericht Frankfurt (Oder) die Abteilung „Organisierte Kriminalität“ leitet, kann über Zahlen keine Auskunft geben und erinnert sich auch nicht an erfolgreiche Verurteilungen großer Schleuserringe.

Die „Forschungsstelle für Flüchtlinge und Migration“ in Berlin, die die einschlägigen Prozesse beobachtet, berichtet dagegen, daß sich vor Gericht vermeintliche Mafiabanden meistens als simple Familienunternehmen entpuppen. Zuletzt wurde das bei vier angeklagten Pakistanern beobachtet, bei denen sich herausstellte, daß sie alle miteinander verwandt sind und nach und nach fast ihr ganzes Dorf nach Westeuropa geschleust haben.

Staatsanwalt Oeser führt die geringe Trefferquote aber eher drauf zurück, daß der BGS einfach zuwenig Leute hat. Die Ostgrenze sei doch ein offenes Tor. Da gelte „freie Bahn für freie Verbrecher“. „Fast immer“, erzählt Einsatzleiter Marcus Pfeiffer, „erwischen wir die Leute in den frühen Morgenstunden. Gerade wenn es hell wird, versuchen es die meisten.“ Die Fahrt um 21 Uhr abends, am Wasser entlang in Richtung Eisenbahnbrücke, ist denn auch pure Routine. Niemand rechnet mit einem Zwischenfall. Trotzdem rollt der Mercedes mit abgeblendetem Licht „gedeckt“, möglichst unauffällig die Auffahrt zur Brücke hoch. Die Streife parkt von der Brücke uneinsehbar und bereitet sich auf einen Rundgang vor.

Plötzlich geht auf der anderen Oderseite eine Leuchtrakete in die Luft, schnell gefolgt von fünf, sechs weiteren. Die polnischen Kollegen geben Alarm. Aufregung verbreitet sich, geduckt rennen die Grenzer auf den Schienen vorwärts. Sekunden später keuchen über die Eisenbahnbrücke drei Gestalten heran. Sie laufen dem BGS direkt am schwarzrotgoldenen Grenzpfahl in die Arme.

„Passport, Passport“, völlig verwirrt, geblendet von einer Taschenlampe, zücken die drei tatsächlich ihre Pässe. Bulgarien, Georgien, Aserbaidschan, gibt der Vordermann die Nationalitäten an seine Kollegen weiter. Die Flüchtlinge bekommen Handfesseln angelegt und werden zum Auto transportiert. Die Grenzschützer ziehen Handschuhe an und tasten ihre Kunden ab. Keine Waffen, kein Gepäck, keine Brieftasche – ohne alles, stehen die Grenzgänger da. Drei Männer, zwei von ihnen noch sehr jung, kaum über zwanzig Jahre alt.

Beim Durchblättern der Pässe stellen die Grenzschützer erstaunt fest, daß zwei der Flüchtlinge gültige Einreisevisa besitzen. Lediglich der Mann aus Bulgarien nicht, der dafür aber fließend deutsch spricht. Er war schon häufiger da, wie sich bald herausstellt.

In der Einsatzzentrale werden die Daten der drei gecheckt. Zuerst über das Zentrale Ausländerregister, dann über das Schengen-Informationssystem und zuletzt über Interpol. Der Mann aus Bulgarien ist registriert. Er war bereits mehrmals illegal eingereist, nachdem ein Asylantrag abgelehnt worden war. Außerdem ist er wegen Autodiebstahls verurteilt worden.

Über die beiden aus Baku und Tiflis weiß der Computer nichts. Aus dem Pässen geht hervor, daß sie trotz ihrer Visa am Vortag am Frankfurter Grenzübergang abgewiesen worden waren. „Sie hatten kein Geld“, berichtet Pfeiffer nach einem Telefonat. Besucher, die nach EU-Europa wollen, müssen für die Dauer ihres geplanten Aufenthaltes fünfzig Mark pro Tag vorweisen können oder aber Verwandte, Freunde oder Bekannte haben, die für sie bürgen.

Die Grenzschützer sind nicht ganz sicher, wie sie mit den beiden Visabesitzern verfahren sollen. Kann man die Visa ungültig stempeln, bevor die beiden wieder nach Polen zurückgeschubst werden? Da keine Juristen mehr im Haus sind, werden erfahrene Kollegen im fernen Frankfurt am Main konsultiert. Die Experten vom Main raten ab. „Lieber nicht“, das gibt vielleicht Ärger mit den französischen Konsularbehörden, die die Visa ausgestellt haben.

Die BGS-Streife schreibt einen kurzen Bericht und beendet ihre Schicht. Der Grenzübertritt ist lediglich eine Ordnungswidrigkeit, die beiden Kaukasier sollen am anderen Morgen zurückgeschickt werden.

Einsatzleiter Pfeiffer ist etwas enttäuscht. „Wir bringen sie zurück, und übermorgen versuchen sie es wieder“. Kein Wunder wenn man bedenkt, was die beiden an Geld und Mühe aufgewandt haben müssen, um bis hierher, an die Grenze zwischen Arm und Reich, zu gelangen.