Storchenparadies im Niemandsland

In Amt Neuhaus an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze: Umweltschützer arbeiten am Biosphärenreservat „Flußlandschaft Elbe“und der Wiederansiedlung der Störche  ■ Von Heike Haarhoff

Wenn es regnet, und das ist im norddeutschen Frühjahr keine Seltenheit, fällt der Entschluß schwer, das rustikale Landgasthaus zu verlassen. Der Blick durchs Fenster auf die stoppeligen Flachäcker und feuchten Wiesen, deren einzige Abwechslung vereinzelte Hügel und selten auch mal Eichen sind, wird draußen zur Gewißheit – es gibt kein Entrinnen vor diesem Panorama grau in grau, das irgendwann nahtlos in den Himmel übergeht. Den Himmel über diesem Niemandsland, das sich stolz „Amt Neuhaus“nennt, in der früheren DDR liegt an der Elbe nahe Boizenburg und angeblich auf dem besten Weg zum „Paradies für Störche“ist.

Ein „Paradies für Störche“, die aber derzeit leider gar nicht zu sehen sind – nicht nur wegen des schlechten Wetters in diesem ehemaligen Sperrgebiet, das nach der Wende Anfang der 90er Jahre wieder Niedersachsen zugeschlagen wurde: „Der Storch ist vom Aussterben bedroht, wenn wir nicht kräftig gegensteuern“, belehrt Hartmut Heckenroth, doch es klingt nicht resigniert. Vielmehr entschlossen: Weil sich Heckenroth, langjähriger Leiter der staatlichen Vogelwarte Niedersachsen und heute ehrenamtlich für die „Stork Foundation“tätig, sicher ist, daß er die Störche hierher zurückholen kann. Wie? Er wird es zeigen, draußen, aber dazu muß man das Landgasthaus dann doch verlassen, was ihm, dem wetterharten Naturschützer, selbstverständlich nichts ausmacht.

Der Weg führt über matschigen Acker hinauf auf eine kleine Anhöhe, den Deich. Heckenroth erzählt. Daß es in den 30er Jahren in Deutschland noch 10.000 Storchen-Brutpaare gab, im Vorjahr dagegen nur noch knapp 4.000. Im Gebiet zwischen Sude und Elbe, sagt der Vogelschützer und zeigt auf das Flüßchen in der Ferne, das später in die Elbe münden wird, nisten inzwischen noch 35 Storchenpaare, ein Zehntel des gesamten niedersächischen Vorkommens: „Wir geben uns große Mühe, den Rückgang zu bremsen, damit auch unsere Kinder den Storch noch live erleben können.“

Um das zu erreichen, müßten großflächig Äcker entlang der Sude in Feuchtwiesen zurückverwandelt werden. Warum bloß, fragen sich Füße, die gerade mit der natürlichen Feuchtigkeit des Regens kämpfen.

In den 60er Jahren wurde die Sude eingedeicht. Ihr natürliches Hochwasser erreichte die landwirtschaftlich genutzten Flächen anschließend nicht mehr. Die Böden trockneten aus, Frösche wanderten ab und mit ihnen die Störche, aber auch Braunkehlchen, Kiebitze und Kraniche. Sie alle hatten ihre Nahrung verloren.

Um die Feuchtwiesen zurückzugewinnen, müssen jetzt Deiche geschlitzt werden, fordert Heckenroth. An genau sieben Stellen in dem 548 Hektar großen Projektgebiet in der Sudeniederung, das nach dem Willen norddeutscher Umweltschützer von BUND über Deutsche Umwelthilfe bis hin zum umweltbewegten Hamburger Verlagshaus Gruner + Jahr zum Biosphärenreservat „Flußlandschaft Elbe“der UNESCO werden soll, sollen die Wälle für das Hochwasser durchlässig gemacht werden. Ein Pumpwerk sowie zwei Stauwehre nahe Neuhaus müßten weichen.

Nicht ohne den Protest der örtlichen Landwirte: Die Arbeitslosigkeit in dem strukturschwachen Gebiet ist hoch; viele fürchten den Wegfall der EU-Subventionen, ihrer Haupteinnahmequelle, sollten sie ihre Äcker ganz aufgeben müssen. Zudem hat das Land Niedersachsen wenige Kilometer entfernt erst jüngst den Nationalpark „Elbtalaue“ausgerufen – in den Augen der Bauern eine weitere Bedrohung ihrer Existenz.

Doch Heckenroth glaubt, den Konflikt lösen zu können. Indem die „Stork Foundation“, diese mit drei Millionen Mark ausgestattete Stiftung des Schokoladenherstellers Storck, das Land schlicht auf- und damit den Protest wegkauft. Rund 100 Hektar gehören dem Schoko-Riesen bereits, 200 weitere hofft man sich demnächst aneignen zu können. Die Stiftung setzt dabei vor allem auf verkaufswillige Bauern, die keinen Nachfolger für ihren Hof haben. Im übrigen, preist das Unternehmen die Ehrenhaftigkeit seiner Aktion, könnten die Feuchtwiesen von den Bauern auch nach der Veräußerung „extensiv und storchenfreundlich genutzt werden“.

Renaturiert werden soll aber nicht nur die Sude. Auch ihr Nebenfluß, die Krainke, müsse weiterhin als Naturschutzgebiet garantiert werden. Am billigsten, sagt der Vorsitzende der Deutschen Umwelthilfe, Gerhard Thielcke, geht das, indem diese Elbe-Zuflüsse sich selbst überlassen werden. Daß sich das lohnt, zeigt der atemberaubende Blick auf die Mündung der Sude in die Elbe am Sitz der Verwaltung des nahen und bereits existierenden Naturparks Mecklenburgisches Elbetal.

An manchen anderen Stellen der Sude allerdings, dort, wo Menschen zuvor ins Ökosystem eingegriffen hätten, müßten Gräben zugeschüttet oder ausgeweitet werden. So ließen sich auch andere vom Aussterben bedrohte Tiere wie Biber und Fischotter, Eisvogel und Kranich im ehemaligen Sperrgebiet fernab von Industrie und Autoabgasen mittelfristig wieder ansiedeln.

Dadurch, erklärt der Biologe, ergebe sich die einmalige Chance für eine „lebendige Elbe“. Und genau die wollen die Deutsche Umwelthilfe und das Verlagshaus Gruner + Jahr als Initiatoren des Projekts fördern – zusammen mit 400 unterstützenden Umwelt-Gruppen.

Langfristiges Ziel ist die Anerkennung der Elbe – nicht nur des Biosphärenreservats nahe Boizenburg, sondern des gesamten Flusses – von der Quelle bis zur Mündung durch die UNESCO als „Kulturlandschaft“. Sie wäre die erste in Deutschland, und für viele Arbeitssuchende in den neuen Bundesländern möglicherweise eine neue Chance auf Erwerbstätigkeit nach Werftensterben und Industrieschließungen: Dann nämlich, wenn die wieder angesiedelten Störche, Biber und Kraniche Touristen locken, beispielsweise aus Hamburg, das nur 70 Zugminuten von Neuhaus entfernt ist. Und nicht umsonst, grinst Heckenroth, ist um das Projektgebiet herum bereits ein Weg von zwölf Kilometer Länge zum Wandern und Radfahren im Bau. Von Holztürmen, die in Planung sind, werden die Besucher dann das ganze Gebiet überblicken können.

Was angesichts der natürlicherweise eher unbergigen Wiesen-Landschaft unstrittig ein Gewinn sein dürfte.