Schröder fordert „die Freiheit, die das Amt braucht“

■ Die SPD inszeniert eine Moderne, die man der alten Sozialdemokratie gar nicht mehr zugetraut hätte. Auch die Parteilinke stellt den Erfolg über die programmatischen Differenzen

Politiker sind manchmal zu bemitleiden. Auch so siegreiche wie Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine. Zu ihren Pflichten gehört es, an diesem Vorabend des Parteitags mit Helmut Schmidt und vier weiteren SPD-Granden zu tafeln. Dutzende Kameras und Augenpaare umringen sie, verschlingen jeden Bissen, noch bevor einer der Herren ihn zum Mund führt. Lafontaine versucht, den Gesprächsfaden zum Altkanzler nicht abreißen zu lassen, in den dieser, so hat es den Anschein, am liebsten reinbeißen würde.

Während also Schmidt kein Thema so wichtig zu sein scheint, daß es seinem Gesicht eine Gemütsbewegung entlocken könnte, lacht Schröder wie immer, wenn er nichts zu lachen hat. Die lückenlose Formation seiner Zähne geht in Stellung gegen die umstehende Meute. Dem Mann sollte man eigentlich nicht zu nahe kommen, obgleich er in diesem Augenblick wohl für jede Ansprache empfänglich wäre, die ihn aus der beredten Sprachlosigkeit der Runde erlöst.

Schröder darf sich schon um 22 Uhr verabschieden und Partner Lafontaine die Pflicht des Gastgebers überlassen, wohl um letzte Hand an seine Kandidatenrede zu legen. Die, so wurde man am Abend von einem gutgelaunten Lafontaine in den neuen Teamgeist eingeführt, habe er gerade in der zweiten Fassung gegengelesen. Auch so kann man Gemeinsamkeiten demonstrieren und zugleich Differenzen deutlich machen.

Differenzen, die am kommenden Tag in den Redetexten der beiden nicht mehr deutlich werden. Der Gerhard für die Modernisierung und der Oskar für die Gerechtigkeit, ein Schröder, den die Wähler wollen, und ein Lafontaine, den die Partei liebt – diese Konstellation ist passé. Spätestens mit der Niedersachsenwahl hat Schröder die Rolle des Parteiopponenten verlassen. Nun inszeniert die gesamte Partei eine Moderne, die man der guten, alten Sozialdemokratie nicht zugetraut hätte. Die öffentliche Überraschung über das mediale Management wird, so die Hoffnung der Parteistrategen, noch bis zum September anhalten. Wer warnende Stimmen vor dieser Amerikanisierung erhofft, der wird allerdings selbst von den Linken enttäuscht.

Noch auf dem letzten Parteitag im Dezember gerierte sich Schröder als Verkünder unangenehmer marktwirtschaftlicher Wahrheiten. Er redete der Flexibilisierung das Wort, als Beispiel diente ihm der Reifenhersteller Continental, bei dem durch Lohnverzicht Arbeitsplätze gesichert werden. Der Kapitalismus in Schröders gestriger Rede ist konsensueller, vernünftiger geworden. Da haben auch viele Großunternehmen erkannt, daß Kostensenkungsprogramme nicht weiterführen, da beweisen innovationsfreudige Manager, daß Entlassungen nicht das einzige Anpassungsinstrument sind.

Die neue Mitte ist Schröders Ziel, dazu gehören nicht nur die Arbeitnehmer, sondern die Ingenieure und der Mittelstand, „den wir auch durch eigene Fehler verloren haben“. Als Kronzeuge für eine erfolgreiche Politik des Mittelstands und der neuen Mitte wird die Sozialdemokratie Helmut Schmidts ins Feld geführt. Dazu ist die Anwesenheit des Altkanzlers mehr als hilfreich. Das soll auch die überzeugen, die die Aufgabe der SPD noch vorrangig in einer Frontstellung der Politik gegen die Wirtschaft sehen. Die Botschaft überzeugt, Gerhard Schröder ist der Kandidat aller Sozialdemokraten, auch der Linken. Denn auch sie will den Erfolg und stellt ihn weit über die geschrumpften programmatischen Differenzen.

Doch ist der Botschafter zwiespältig. Denn Helmut Schmidt steht auch für eine sozialdemokratische Regierung, der die Partei die Gefolgschaft verweigerte. Die Befürchtungen, daß ein Kanzler Schröder aus dem Ruder laufen könnte, sind jedoch verstummt. Dazu mag auch beitragen, daß Lafontaine eine gewichtige Rolle am Regierungssitz übernehmen wird. Diese Zuversicht äußert zumindest Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering, während sich der Angsprochene noch bedeckt hält, welche Rolle ihm da vorschwebt.

Lafontaine signalisiert in diesen Tagen vor allem, daß er auch ein Privatmann ist, dem die Politik nicht alles bedeutet. Daß er in eine Regierung Schröder eintritt, wird zwar mancherorts gemutmaßt, ist aber doch eher unwahrscheinlich. Wie könnte er gegebenenfalls einen Kanzler Schröder an die Parteilinie gemahnen, wenn er in dessen Regierungspolitik eingebunden ist. Und das hat sich Schröder schon gestern von seiner Partei erbeten: „Daß ihr mir die Freiheit geben werdet, die das Amt braucht.“ Dieter Rulff, Leipzig