Kommentar
: 100 Tage Einsamkeit

■ Wer soll für Kohl die Wahl gewinnen, wenn er solche Interviews gibt?

Ja, hat denn der Kanzlerfreund Leo Kirch im Springer-Verlag gar nichts mehr zu sagen? Da warten wir Sonntag für Sonntag auf den ersten Tiefschlag gegen den SPD- Kandidaten. Statt dessen gab es gerade mal einen Sparringserfolg der Bild am Sonntag gegen die Grünen mit ihrer Flugbenzinsteuer. Und dann gestern das: „Wer kann Schröder noch stoppen?“ titelt das sonntägliche Flaggschiff der Konservativen und weiß, trotz fünf bunter Porträtfotos von Kohl bis Biedenkopf, keine Antwort. Die Welt am Sonntag, das Schwesterblatt für konservative Beamte, tut zwar ihr Bestes und lädt den Noch-Kanzler zur Selbstinszenierung per Interview. Doch der kann das nicht halb so gut wie Schröder und buchstabiert hölzern „Mein Programm für die ersten 100 Tage nach der Wahl“. Wow! Da hat er nämlich „klare Vorstellungen, geleitet von der Überlegung: Was ist gut für Deutschland?“ Nur zu dumm, daß nach 16 Jahren Regierungszeit nichts Neues dabei ist. Schon für Punkt eins, die „große Steuerreform“, bräuchte er auch nach dem 27. September wieder die Zustimmung der SPD-regierten Länder. Und „persönlich engagieren“ will er sich „dafür, daß auch in diesem Jahr ein ausreichendes Angebot an Lehrstellen bereitgestellt wird“. Sein Engagement bei der Halbierung der Arbeitslosigkeit hat allerdings auch noch niemand bestritten.

Am gleichen Wochenende fordert Volker Rühe, die Nummer zwei in der Thronfolge, öffentlich, seine Partei müsse sich jetzt „etwas einfallen lassen“. In der Tat. Nur was? Kohls 100-Tage-Programm gibt da wenig Aufschluß. Auf die Unverbindlichkeit des SPD-Kandidaten hinweisen, wie es Schäuble tut? Gerade Schröders Versprechen, der Wählerschaft den Pelz trocken zu waschen, scheint die wasserscheuen Deutschen ja zu begeistern.

Noch nie war der Abstand zwischen den beiden Kanzlerkandidaten so groß (66 zu 26 Prozent), selbst Kohl traut sich im WamS-Interview nicht mehr, den Vergleich mit 1994 zu ziehen, denn damals hatte er Ende April die Trendwende geschafft und Rudolf Scharping schon überholt. Bitter für die Union, wenn sich jetzt andeutet, daß sich die Springer-Presse mit einem Kanzler Schröder abfinden – oder sogar anfreunden kann. Aber warum auch nicht? Englands Medienzar Rupert Murdoch, der einst Maggie Thatcher ihre Siege sicherte, ist schließlich auch rechtzeitig zu Tony Blair übergelaufen. Michael Rediske Bericht Seite 4