Der Dämon im Schrebergarten

■ Der Historiker Stefan Wolle hat ein vergnügliches Buch über die Verschränkung der Pathologie des Alltagslebens in der DDR mit der Pathologie der SED-Machthaber geschrieben

Nicht erst im nachhinein erscheint die DDR als Groteske, trieb doch schon ihre Bevölkerung nebst einigen Parteiangehörigen den politischen Witz auf sarkastische und selbstironische Spitzen. Menschen wohnten in den „Arbeiterschließfächern“ des Plattenbaus, und da nicht nur Gutes, sondern auch der gepanschte Kaffee von oben kam, war „Erichs Krönung“ während der Kaffeekrise im Jahr 1977 in aller Munde.

Inmitten des historisch-politischen Aufarbeitungsstreits der neunziger Jahre wählt nun der ostdeutsche Historiker Stefan Wolle bewußt diesen „Brennspiegel der Groteske“, um DDR-Alltag und -Herrschaft in den letzten beiden Jahrzehnten unter Honnecker zu beleuchten und bis „zur Kenntlichkeit“ zu verzerren.

Der provokative Buchtitel „Die heile Welt der Diktatur“ deutet darauf hin, daß im gefährlichen „Labyrinth der Vergangenheit“ das Abschiednehmen vom Leben in der DDR schmerzlich und das Vergessen oder einseitige Verklären nur allzu menschlich ist.

Doch warum bezeichnen viele Ostdeutsche ihr Vor-Wende-Leben als menschlicher? Oder warum unterscheiden sich ihre Wahrnehmungen in eklatanter Weise voneinander? Den Grund sieht Wolle nicht allein in einer retrospektiven Verharmlosung oder Dämonisierung der DDR, sondern vielmehr in einer Lücke zwischen individueller Erfahrung und wissenschaftlicher Forschung. Diese will er schließen, indem er das wechselseitige Sichdurchdringen von Repression und Alltag analysiert: „die dämonische Dimension der Harmlosigkeit und die harmlos-alltägliche Seite der Dämonie“.

Beginnend beim Machtwechsel vom Technokraten Ulbricht zum pragmatischeren „Buchhaltertypen“ Honnecker im Jahr 1971, bettet Wolle die DDR in ihre komplexen Verflechtungen und Verpflichtungen gegenüber der Sowjetunion und der Bundesrepublik ein, um sich nach einer etwas trockenen Beschreibung der Macht-, Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen chronologisch den Krisenerscheinungen und dem endgültigen, unvermeidlichen Zusammenbruch der DDR zu widmen.

Stefan Wolle selbst maßt sich keine Wahrheitsfindung an, denn aus einer Synthese von Selbsterlebtem und Quellenstudium könne lediglich Wahrhaftigkeit entstehen. Doch ist Geschichtsschreibung tatsächlich nur die „Erfindung der Vergangenheit“? So liest sich Wolles Epilog fast als Rechtfertigung eines Historikers, der sich über sein Terrain hinauswagt auf die mit illustrativen Anekdoten behaftete Erzähl- und Analyse-Ebene.

Wolle belegt eindrucksvoll mit Zitaten aus Berichten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und der Partei, in welchem Ausmaß die Bevölkerung überwacht und drangsaliert wurde. Die bürokratische, kleinkarierte Ausdrucksweise der Spitzel und die Inhalte bleiben unkommentiert, denn sie sprechen für sich, erschrecken und ziehen zugleich das Überwachungssystem ins Lächerliche. Fraglich bleibt jedoch Wolles These, daß es in der DDR keine „Nischen“, keine wirklichen Rückzugsmöglichkeiten gegeben hat.

Die Darstellung gewinnt vor allem dort an Lebendigkeit und Prägnanz, wo der Autor nicht nur die Mythen der Gleichberechtigung sowie des Baby- und Rentnerglücks zunichte macht, sondern die Bedeutung von Kleinanzeigen und sozialistischem Biedermeier für den DDR-Bürger illustriert. Dem „Ost-Leser“ werden hier „Aha-Effekte“, dem „West-Leser“ Einblicke in das Leben, Denken und Fühlen unter der SED-Diktatur zuteil.

Ein Großteil der Informationen ist für den DDR-Kenner nicht gerade neu. Die Breite der Darstellung geht in vielen Bereichen auf Kosten der Tiefe. Doch gelingt es Wolle in frappierender Weise, im dichten Neben- und Miteinander der Informationen und alltäglichen Schilderungen seine These der Dialektik von Stabilisierung und Destabilisierung zu untermauern und zu veranschaulichen. Die SED perfektionierte mit Hilfe des MfS und der Massenorganisationen ihre gesellschaftliche Kontrolle in einem selbstzerstörerischen Ausmaß. Jegliche Kapazitäten wurden „übererschöpft, andererseits aber verkrusteten sämtliche Strukturen und mußten schließlich zwangsläufig kollabieren“.

Für Stefan Wolle besteht kein Zweifel daran, daß die DDR ein diktatorisches System war. Doch, und hier zeigt sich sein Augenmerk für Ambivalentes, springt er mit der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ nicht zimperlich um, sondern diagnostiziert ihre „Freude an der Unterwerfung“ und den Hang zur Bequemlichkeit: „Man lebte in den Tag und genoß die Unfreiheit. Niemanden quälte beim Autokauf die Frage: Bordeauxrot oder Chinchilla.“

Um der Geborgenheit willen, aber um den Preis des Freiraums hätten sich die Menschen auf die „kommode Diktatur“ eingelassen: „Die sauber geharkten Todesstreifen an der deutsch-deutschen Grenze und die gepflegten Vorgärten bildeten keinen Widerspruch, sondern zwei Seiten desselben Systems. Das Kleinbürgerglück, das so viele westliche Beobachter bewunderten, existierte nicht neben, sondern als Teil der totalitären Herrschaft.“ Diesen in der DDR-Forschung und -Diskussion umstrittenen Ausdruck verwirft Wolle abschließend aber wieder.

Doch niemand kommt in der „heilen Welt“ gut weg, vielleicht zu Recht: Weder die kritisch-abgehobenen, SED-nahen Intellektuellen noch die sich in den achtziger Jahren formierende kleine Gruppe der kirchlichen Oppositionellen, denen der Historiker fehlende Programmatik und zur Wendezeit innere Zerstrittenheit bescheinigt. Die liebevoll „langhaarige Schmuddelkinder“ genannten Streiter für eine demokratische DDR hätten sich von den Ausreiseantragstellern, die plötzlich mit „Wagen der gehobenen DDR-Mittelklasse vorfuhren“, verraten gefühlt. Die Leitung der evangelischen Kirche wiederum kooperierte mit der SED, der Westen war blind. Leider bleibt in den ansonsten ausführlicheren Kapiteln über die DDR-Opposition die (unbeteiligte?) Bevölkerung und deren Alltag außen vor.

Doch alle hatten nach Meinung des Autors teil an der „breiten demokratischen Volksbewegung“ im Herbst 1989: Die Stabilisierer der DDR hatten ihr unbeabsichtigterweise den Boden bereitet, auf dem dann die Entspannungspolitik und die Perestrojka fruchtbar werden konnten. Schließlich rissen die oppositionellen Gruppen gemeinsam mit der evangelischen Kirche und der Ausreisebewegung einen Teil der Bevölkerung mit sich.

Denn: Es sei in der DDR unmöglich gewesen, sich ganz zu verweigern oder mitzumachen. Doch selbst wenn Wolle einschränkend zugibt, daß einzelne individuelle Grenzen gezogen haben, die sie nicht überschreiten wollten, lautet sein fatales, weil nicht differenzierendes Fazit: „Alle waren gleichzeitig Mitläufer und im Widerstand.“ So gesehen liefe Geschichtsschreibung tatsächlich Gefahr, die Vergangenheit zu erfinden und Teil der Groteske zu werden. Isabel Fannrich

Stefan Wolle: „Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989“. Ch. Links Verlag, Berlin 1998, 400 Seiten, 48 DM