Konsenssuche behindert Krisenmanagement in Japan

■ Oppositionspolitiker Naoto Kan will Premier und Parlament gegenüber den Beamten stärken

Tokio (taz) – Für Japans Spitzenpolitiker gehören Auslandreisen derzeit zu den unbeliebtesten Amtspflichten. Wo immer sie hinfahren, werden sie für ihre verfehlte Wirtschaftspolitik kritisiert. Ängste, Japan könnte als zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt in eine Rezession fallen, gehen um die Welt. Nur auf Druck von außen hat Japans Regierung ein Konjunkturpaket aufgelegt. Premier Ryutaro Hashimoto kündigte Steuersenkungen und Infrastrukturinvestitionen von 220 Milliarden Mark an.

Doch Kritiker suchen die Wurzeln der Wirtschaftskrise immer stärker im politischen System. „Ein totaler Fehlschlag“, nennt Naoto Kan, Japans einflußreichster Oppositionspolitiker und Chef der Demokratischen Allianz, die Reaktion der Regierung auf die sich abzeichnende Rezession. Das traditionelle System breiter Konsenssuche zwischen Politikern, Bürokraten und Interessengruppen sei ungeeignet für effektives Krisenmanagement, meint Kan. Er schlägt eine Stärkung des Premierpostens und des Parlaments vor. „Die Politiker und nicht die Spitzenbeamten sollen den Kurs bestimmen“, sagt Kan. Im Unterschied zum deutschen Bundeskanzler ist die Stellung des japanischen Premiers schwach. Die Konsenssuche zwischen den Fraktionen in der regierenden Liberal- Demokratischen Partei (LDP) gehört zu Hashimotos Hauptaufgaben. Und diese Suche ist schwer geworden. Kaum hatte er vergangene Woche Steuersenkungen von 52 Milliarden Mark angekündigt, wurde er in der eigenen Partei für das „überstürzte Vorgehen“ kritisiert. Denn jede der acht LDP- Fraktionen vertritt eine andere Meinung, die einer bestimmten Interessengruppe hilft.

So will die stärkste LDP-Fraktion die Sanierung des Haushalts als wichtigstes politisches Ziel des Kabinetts beibehalten. Angsichts des überschuldeten Staatshaushalts ein legitimer Anspruch. Japans öffentliche Hand ächzt unter einer Schuldenlast, die einem jährlichen Bruttosozialprodukt entspricht. Die Neuverschuldungsrate ist auf sechs Prozent gestiegen, doppelt so hoch, wie die EU ihren Mitgliedern erlaubt. LDP-Politiker mit einem Klientel in ländlichen und älteren Wählerschichten wollen vor den Oberhauswahlen im Juli keine Kehrtwende in der Regierungspolitik hinnehmen. Das verzögert die Entscheidungsfindung in Tokio erheblich.

„Auch das jüngste Stimulierungsprogramm muß vor dem Hintergrund der Oberhauswahlen betrachtet werden“, sagt der Oppositionspolitiker Yoshio Suzuki. Der ehemalige Ökonom stieg vor fünf Jahren in der Hoffnung auf Veränderung in die Politik ein. Heute stellt er resigniert fest, daß die LDP wieder mit alten Rezepten die Konjunktur ankurbeln wolle. „Minderheitsinteressen bestimmen gegenwärtig den LDP- Kurs“, sagt Suzuki. Baukonzerne und ländliche Gebiete würden wieder am stärksten vom Konjunkturpaket profitieren. Dagegen seien Strukturreformen vertagt worden.

Kan macht für die Krise nicht nur die Politiker verantwortlich: „Grundsätzlich ist es ein Versagen unseres bürokratischen Systems.“ Der Ex-Gesundheitsminister spricht aus Erfahrung. Vor zwei Jahren konnte er nur gegen großen Widerstand der Beamten einen HIV-Skandal aufdecken. Skandale im Finanzminsterium und in der Zentralbank haben das Vertrauen der Bevölkerung in die Verwaltung erschüttert. Nur mit parlamentarischer Kontrolle der Beamten könne es zurückgewonnen werden, so Kan. André Kunz