Zehn Prozent der Kinder werden sterben

In der Provinz Bahr al-Ghazal im Südwesten des Sudan, zwischen Militärregime und SPLA-Rebellen umkämpft, wütet eine Hungersnot. Die Regierung behindert Hilfsflüge, ein SPLA-treuer Warlord erschwert Selbsthilfe  ■ Aus Turelei Ilona Eveleens

Das Meßband um den Arm des Babies kann ganz eng gezogen werden, bis in den Bereich, wo die Meßzahlen rot sind. Das bedeutet: Das Kind ist schwer unterernährt. Seine Mutter wird nach links geschickt und bekommt sechs Kilogramm vitaminangereichertes Milchpulver. Die Frau hinter ihr in der Reihe muß nach rechts. Die Arme ihrer Kinder sitzen noch in den grünen Ziffern. Für sie gibt es nichts.

„Wir spielen Gott mit einen Meßband“, sagt Norman Sheehan von der irischen Hilfsorganisation Goal. Er leitet die Verteilung von 20 Tonnen Nothilfe im Dorf Turelei im Süd-Sudan. Aus den Reihen von Frauen und Kindern, gekleidet in staubige Lumpen, holt Sheehan die schlimmsten Fälle heraus. „Die Situation ist sehr besorgniserregend. Ich habe nur in Somalia 1992 so eine schlimme Lage gesehen. Wenn in kurzer Zeit nicht genügend Nahrungshilfe hier ankommt, gibt es eine große Katastrophe.“

Turelei liegt im Norden der Provinz Bahr al-Ghazal, etwa 200 Kilometer nördlich der Provinzhauptstadt Wau. Die Vereinten Nationen befürchten, daß hier eine halbe Million Menschen vom Hungertod bedroht sind. Bahr al-Ghazal liegt im Südwesten des Sudan, an der Grenze zwischen dem islamisch-arabischen Norden und dem schwarzafrikanischen Süden. Nord und Süd sind seit fünfzehn Jahren in einen Bürgerkrieg verstrickt, bei dem die Rebellenbewegung SPLA (Sudan Peoples Liberation Army) gegen die arabische Beherrschung des Südens und das islamistisch beherrschte Militärregime des Sudan kämpft. Schon 1988 verhungerten in Bahr al-Ghazal 300.000 Menschen. Diesmal hat der Hunger in Bahr al-Ghazal ein Gesicht. Hier herrscht der Warlord Kerubino Kuanyen Bol, Angehöriger des südsudanesischen Dinka-Volkes wie der SPLA-Führer John Garang, mit dem er 1983 die SPLA gründete. Kerubino zerstritt sich später mit Garang und wurde verhaftet. 1993 gelang es ihm zu fliehen, und er wechselte die Seiten. Die Regierung versorgte ihn mit Waffen, und er herrschte unangefochten über Bahr al-Ghazal. Kerubinos Kämpfer beraubten, vergewaltigten und ermordeten die Bevölkerung. Viele Menschen flohen. Im Januar dieses Jahres wechselte Kerubino auf spektakuläre Weise wieder zur SPLA. Er griff die von Regierungstruppen gehaltene Stadt Wau an. Die Attacke schlug zwar fehl, aber damit kämpfte sich Kerubino zurück in den Schoß der Rebellenbewegung.

Die Bevölkerung von Bahr al- Ghazal traut ihm überhaupt nicht. „Alles ist die Schuld von Kerubino“, sagt Achol Atok, die fünf Stunden nach Turelei gelaufen ist in der Hoffnung, dort zu essen zu bekommen. „Wegen seinem Terror zogen wir weg. Jetzt sind wir heimgekehrt, und es gibt nichts zu essen. Es gibt keine Saat. Das einzige, was wir noch haben, sind unsere zusammengestürzten Häuser.“ Ihr kleiner Sohn sitzt an ihren Füßen und hält sich den Bauch. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt. Er hat Krämpfe von den Grassamen und bitteren Tamarinde- Früchten – das einzige Essen, das seine Mutter für ihn hat.

Aber die Einheit der SPLA ist für viele jetzt wichtiger als Rache. Kerubino brauche einen Psychiater, meint Lino Angok Kuec, einst Professor an der Universität von Wau. Er floh aus der Stadt, als Kerubino angriff. Mehr als die Kleider an seinem Leib nahm er nicht mit, für Essen ist er angewiesen auf seine Familie auf dem Lande. Trotzdem akzeptiert er – vorläufig –, daß der Kriegsherr und seine Männer Teil der SPLA sind. „Die Einheit ist so wichtig, weil doch jetzt endlich mal der Krieg gewonnen werden muß. Aber eines Tages muß Kerubino sich verantworten für seine Taten. Jetzt brauchen wir ihn – leider.“

Bahr al-Ghazal ist eine dichtbesiedelte Provinz mit schätzungsweise zwei Millionen Einwohnern. Hier leben vor allem Dinka, die größte Bevölkerungsgruppe im Süd-Sudan. Viele Frauen müssen alleine für ihre Kinder sorgen, weil die Männer irgendwo in der Rebellenarmee Krieg führen oder umgekommen sind. Einige Kilometer außerhalb Turelei sind die Schützengräben noch zu sehen, aus denen SPLA-Soldaten gegen Kerubino kämpften. Jetzt suchen dort Frauen nach Essen. Ein kleiner Junge verjagt eine magere Kuh von ihrem Kalb. Kind und Kalb streiten sich um die wenige Milch der Kuh.

Der Markt von Turelei hat wenig zu bieten. Die meisten Produkte kommen aus dem Umland – Tabak, Nüsse und Fisch. Käufer gibt es selten. Die meisten Menschen besitzen nichts. Große Mengen Fliegen drängen sich um die Waren. „Ich schätze, daß fünf Prozent der Bevölkerung sich etwas auf dem Markt kaufen können“, sagt Dominique Matiok. Er war Rechnungsprüfer in Wau und floh ebenfalls im Januar aufs Land. „Das sind meistens Leute, die Familie im Ausland haben und ein wenig finanzielle Unterstützung bekommen. Wir, die anderen, müssen von wilden Früchten leben.“

In Turelei ist die Situation ein wenig besser als in der Umgebung. Es ist nämlich das Heimatdorf von Justin arop Jak, SPLA-Vertreter in Ostafrika. Von seinem Büro in Kenias Hauptstadt Nairobi aus sorgt er regelmäßig für zusätzliche Lebensmittel. Dank des Einflusses von Jak hat Turelei seit kurzem einen Arzt: Doktor Majok Jak. Er findet die Situation katastrophal: „Zwanzig Prozent der Kinder in der Region sind unterernährt. Das heißt, sie wiegen bloß 60 Prozent des Normalgewichts. Zehn Prozent der Kinder werden sterben. Vielleicht nicht durch Hunger, aber an Krankheiten, weil sie sehr wenig Abwehrkräfte haben.“

Hilfsorganisationen hoffen, das drohende Massensterben noch abzuwenden. Viel hängt ab von der OLS (Operation Lifeline Sudan), in der sich die meisten Hilfsorganisationen vereinigt haben. Immer mehr Spender sind unglücklich über die OLS. Die sudanesische Regierung muß nämlich für OLS- Flüge ihre Zustimmung geben und droht, „illegale“ Flüge zu beschießen. Regelmäßig verbietet die Regierung die OLS-Flüge. Den ganzen März konnte aus „Sicherheitsgründen“ nicht geflogen werden.

Einige Organisationen, wie die irische Goal und die norwegische NPA, machen bei der OLS nicht mit. Trotz der Drohungen aus Khartum fliegen sie so oft wie möglich nach Süd-Sudan. Die Zeit eilt, warnt Dan Eiffe von der NPA: „Im Mai fängt die Regenzeit an. Dann können wir nicht mehr landen, weil die Landebahnen bloß Sandflächen sind.“