Fehleinschätzung –betr.: „Dumpfes Gefühl“, taz-Hamburg vom 17.4.98

Der Kampagne gegen das angeblich „antisemitische“Buch von Ludwig Thieben (Das Rätsel des Judentums), dürfte eine Fehleinschätzung dieses Buches zugrunde liegen. Der Verfasser, Ludwig Thieben, war der Geburt nach Jude; er ist im späteren Verlaufe seines Lebens zur Anthroposophie gekommen. Sein Buch hat man wohl zu verstehen als einen Versuch, das Judentum für Anthroposophen verständlich zu machen und es ihnen nahe zu bringen. (...)

Andererseits ist das Buch aus einer christlichen Perspektive heraus geschrieben. Für Thieben ist das Erscheinen Christi in Palästina um die Zeitenwende das zentrale wichtigste Ereignis der menschlichen Geschichte. Im Lichte dieses Ereignisses betrachtet er auch die weitere jüdische Existenz. Dabei findet man nichts von jener haßerfüllten Stimmung, wie sie für Generationen christlicher Theologen kennzeichnend gewesen sein mag, aber es fallen doch auch Sätze über das nachchristliche Judentum, die man als sehr kritische empfinden kann. Es sind derartige Sätze, die die Kampagne gegen das Buch zitiert, und man wird ihr zugestehen müssen, daß sie sehr geschickt – aber ohne den geringsten Anflug von Wohlwollen – ausgewählt hat.

Es ist leicht zu verstehen, daß man sich als Jude von derartigen Sätzen – aus dem Zusammenhang gerissen – verletzt fühlt; natürlich kann man in Zweifel ziehen, welche Berechtigung diesen Aussagen zugrunde liegt. Aber man sollte schon unterscheiden zwischen kritischen Passagen über das Judentum und antisemitischem Haß; von letzterem ist in dem Buch nichts zu spüren .(...) Andreas Bracher