Unverdrossen auf dem Kupferlöwen

■ Das Große Dramatische Theater Grosny gastierte erstmals in Berlin – Ein Erlebnisbericht

Anfang April war es endlich soweit: Die Schauspieler des Großen Dramatischen Theaters in Grosny, Tschetschenien, trafen zu ihrem Gastspiel in Berlin ein. Bis zum Schluß war nicht sicher gewesen, ob sie auch wirklich ankommen würden. Erst Ende März hatte das Ensemble seine Auslandspässe ausgehändigt bekommen, war allein nach Moskau schon drei Tage lang im Zug unterwegs gewesen und geriet dabei gleich in drei russische Kontrollen...

Endlich in Berlin angekommen, fuhren wir zum Haus der Kulturen der Welt, wo die Aufführung stattfinden sollte. Als der Chefregisseur und Autor Ruslan Chakischew die große Spielfläche sah, rief er: „Himmel, da müssen wir uns ja große Mühe geben, um die Hemmungen zu überwinden.“ Seit der alte weiße Theaterbau in Grosny für tausend Zuschauer bei einem Angriff der Russen 1994 zerstört worden war, hatte das Große Dramatische Theater nur noch auf einer kleinen Bühne für rund hundert Zuschauer auftreten können.

Wie immer bei Gastspielen war auch diesmal die Zeit sehr knapp. Die Bühne mußte aufgebaut, Beleuchtung und Ton mußten eingerichtet werden. Außerdem fehlten diverse Requisiten. Aus dem Filmstudio in Babelsberg wurden Gewehre mit Bajonetten, Uniformmäntel und Stiefel besorgt. Ein ausziehbares Fernrohr und ein Akkordeon mußten außerdem her. Für etwaige Tonproben blieb keine Zeit, bei der Aufführung setzte sich Regisseur Chakischew selbst hinter die Regler, und am Ende war es doch gelungen, Garcia Lorcas „Bluthochzeit“ und das Nationalepos „Erde der Väter“ ohne technische Pannen hintereinander zu zeigen. Die Aufführungen waren in tschetschenischer Sprache – ohne Übertitel oder Übersetzung. Die Zuschauer, die da waren, reagierten ausgesprochen freundlich, doch leider waren es nicht sehr viele.

Ich frage mich, warum hierzulande so wenig Interesse an der Kultur Tschetscheniens herrscht. Können wir uns immer noch nicht vorstellen, daß irgendwo im Nordkaukasus ein kleines Volk seit dreihundert Jahren um seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit von der russischen Fremdherrschaft kämpft, daß es immer wieder grauenhaften Angriffen ausgesetzt ist?

Warum interessiert sich niemand dafür, daß Stalin die Tschetschenen 1944 nach Kasachstan verschleppen ließ, wo sie bis 1957 bleiben mußten? Warum will niemand wissen, daß die russischen Angriffe 1944 zuerst gezielt die kulturelle Basis trafen, Bibliotheken, Schulen, Museen, Theater und Kinos ausradierten?

Zugegeben, die Inszenierungen des Großen Dramatischen Theaters in Berlin waren im Stil des 19. Jahrhunderts gehalten. Dennoch verstehe ich nicht, wie man bei so ungebrochen begeisterten jungen Künstlern so gleichgültig bleiben kann. Wie alt fühlte ich mich ihnen gegenüber oft, wie abgeklärt. Unverdrossen zwanglos bauten sie sich immer wieder zu Gruppenfotos auf oder saßen auf den Kupferlöwen der Freitreppe des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt und bekamen die pikierten Blicke der Passanten gar nicht mit. Während eines Besuches von Bertolt Brechts „Im Dickicht der Städte“ im Deutschen Theater in der Regie von Johanna Schall gingen einige der jungen tschetschenischen Schauspielerinnen raus, als auf der Bühne die große „Bumsarie“ begann. Anschließend machten sie niemandem Vorwürfe; sie hatten das einfach nur nicht sehen wollen.

Erstaunlich dann auch die Abfahrt: Punkt neun Uhr sollte ihr Bus abfahren, und punkt neun Uhr standen auch alle auf der Straße. Aber keiner stieg ein. Immer noch gab es etwas zu besprechen. Schließlich gedrängt, sich zu beeilen, reagierten sie befremdet: „Warum müßt ihr Deutschen immer auf die Uhr schauen? Wer jagt euch und warum?“ Peter Krüger