■ Demokratie unter Druck (9): Die Mitte als politischer Begriff muß neu definiert werden, sie will hergestellt und nicht vereinnahmt sein
: Neue Mitte, alte Politik

Ab sofort „sind wir die Neue Mitte Deutschlands“, verkündet die SPD in ihrem Wahlprogramm, doch sie hütet sich, diese neue Mitte durch eine neue Politik zu überzeugen. Kanzlerwechsel ohne Politikwechsel, so lautet die Botschaft des Kandidaten. Das soll Angst nehmen und Sicherheit geben. Zum Wahltag mag das Kalkül aufgehen. Doch langfristig birgt jedes Status-quo-Versprechen ein beträchtiches Risiko.

Soziale Revolutionen lassen sich nicht mit einem Weiter so beantworten. Die Erfahrungen dieses Jahrhunderts deuten auch künftige Möglichkeiten, Aufgaben und Gefahren an. Die erste Modernisierung, gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts, hat konstruktive und zerstörerische Reaktionen hervorgebracht. Ein unwahrscheinliches Reformbündnis, zu dem Arbeiterführer, Unternehmer und eine politische Reformelite gehörten, hat aus der Mitte der Gesellschaft heraus zunächst den deutschen Sozialstaat geschaffen: strukturelle Reformen als Antwort auf gesellschaftliche Veränderungen. Abstiegsängste, soziale und metaphysische Obdachlosigkeiten, Ressentiments und die Suche nach Sündenböcken haben später dann den Erlöser von allen Übeln gesucht und gefunden. Auch diese pathologischen Energien kamen aus der Mitte der Gesellschaft. Das Ergebnis ist bekannt.

Die Geschichte wird sich nicht wiederholen. Dahrendorfs düstere Warnung vor einem „autoritären 21. Jahrhundert“ nennt nur die eine Möglichkeit. Bei der anderen aber sollte klar sein, was das Gebot der Stunde ist: Das deutsche Modell muß auf eine neue Grundlage gestellt, es muß wieder robust und leistungsfähig gemacht werden. Das könnte die Aufgabe für eine neue politische Mitte in Deutschland sein: kreative, weiterführende Antworten zu finden auf die tiefgreifenden Veränderungen der Zeit. Die Mitte als eine schöpferische politische Leistung, nicht als eine Art Sammeltaxi zum Nulltarif, das alle und jeden mitnimmt.

Was die SPD als „neue Mitte“ beschreibt, hat seit bald 20 Jahren keiner besser und erfolgreicher repräsentiert als der Kanzler: eine eher unpolitische alte Mitte als eine Addition aller möglichen Gruppen; Politik als Quersumme organisierter Interessen; die Mitte als eine politische Leerformel, die allen wohl und niemand wehe tut.

Gerhard Schröder versucht, an dieses Erfolgsrezept der Vergangenheit anzuknüpfen. So setzt er sich kürzlich ins Bild, ins Titelbild des Vorwärts, mit einer dicken Zigarre, die Wolken eines bräsigen Optimismus verbreitend, Ludwig Erhard II. soll das wohl heißen, der Vater des Wirtschaftswunders und sein später Erbe. Was aber beim Original damals noch Gedanke und Tat war, ist heute bei dem SPD-Kandidaten nur noch ein Versprechen in die Vergangenheit. Arbeit. Auto. Arbeit.

Die alte Mitte war einmal ein großer Fortschritt, nach all den Kultur- und Klassenkämpfen, nach den nationalen und europäischen Bürgerkriegen. Diese alte Mitte lag irgendwo zwischen links und rechts, Kapital und Arbeit, Kommunistischem Manifest und katholischer Soziallehre, unter dem Himmel einer wachsenden Wirtschaft, steigender Markt- und Sozialeinkommen, endlich auch nach innen und außen befriedet, geläutert durch schlimme Erfahrungen. Schon damals war der Begriff der Mitte mehr als eine bloße Zustandsbeschreibung, nämlich Ausdruck eines politischen Willens, Metapher für ein politisches Konzept (Partnerschaft statt Klassenkampf: Union von Katholiken und Protestanten; Europa statt Nationalismus). Um nicht mehr und um nicht weniger geht es auch heute: Die Mitte muß als politischer Begriff neu definiert werden; sie will politisch hergestellt und nicht vereinnahmt sein. Das ist gewiß schwieriger als damals. Es gibt kaum noch große homogene Gruppen. Die Gesellschaft zerfällt immer mehr in Minderheiten. Es entstehen neue kulturelle Muster, Axiome und Trennlinien, und sie verlaufen mitten durch die einzelnen Individuen. Die soziale Mitte der Gesellschaft ist politisch und kulturell nicht festgelegt; sie ist fragmentiert, oft chaotisch, fast immer unberechenbar.

Was bedeutet diese neue Vielfalt und Unsicherheit für die Politik und ihre tragende Werte wie Sicherheit und Gleichheit? Vermutlich kann Politik künftig weniger in Gruppen und anzustrebenden Zuständen (wie z.B. Vollbeschäftigung), muß sie mehr in Lebensphasen und Prozessen gedacht werden. Die alte Mitte konnte aus dem Wachstum schöpfen, die neue Mitte muß den Umgang mit Knappheiten lernen: an Arbeitsplätzen, an Umweltverbrauch, an sozialer Zuwendung in Familien. Welche Risiken, welche Chancen stecken darin, für die einzelnen, für die Gesellschaft insgesamt?

Die alte Mitte konnte auf den nationalen Staat hoffen, jene große Agentur, die flächendeckend für Gleichheit und Sicherheit, Gerechtigkeit und Umverteilung sorgen sollte. Die neue Mitte wird einen anderen Staatsbegriff brauchen; sie wird debattieren und entscheiden müssen, auf welcher Ebene welche Entscheidungen mit welchen Methoden am besten getroffen werden, und dabei wird sie auf die Grenzen des Marktes und des Staates stoßen. Von der Bürgergesellschaft wird mehr und mehr die Rede sein, ob als Ergänzung, Reformperspektive, Ausfallbürge oder ganz einfach als Ausrede für den Sozialstaat alter Prägung: das wird die Frage sein. Es sind solche Fragehorizonte, die hinter den konkreten Reformprojekten der nächsten Jahre (Steuer-, Bildungs- und Hochschulreform, Restrukturierung des Sozialstaates) stehen. Ob sie gelingen, entscheidet à la longue nicht nur über das Schicksal dieser oder jener Regierung, sondern auch darüber, ob Demokratie noch einen politischen Sinn macht. Gewiß: Berlin wird nicht Weimar. Die zweite deutsche Demokratie ist so robust, daß sie viel überlebt. Sie wird nicht von den Rändern her bedroht. Die äußeren Feinde sind entschwunden.

Die Erosion kommt, wenn sie kommt, von innen. In lustlosen Wahlen, bei denen es wenig zu wählen gibt. Vor denen die Wähler nicht erfahren, was sie hinterher erwartet. Wenn sich herumspricht, daß es keinen Unterschied mehr macht, wer regiert. Vor allem aber: Wenn es sich zeigen sollte, daß die real existierende Demokratie in Deutschland (Koalitionismus, Föderalismus, Korporatismus) ganz gut gemacht war, um das Wachstum zu verwalten und zu verteilen, aber schlecht dafür taugt, die fälligen Innovationen aus sich hervorzubringen. Das wäre auf Dauer die eigentliche Gefahr für die konkurrenzlose Demokratie: daß sie an den Aufgaben der Zukunft scheitert. Warnfried Dettling