■ Ob in der Arbeitswelt, der Bildung oder bei der Pränatalen Diagnostik – wenn etwas nicht funktioniert, ist der Einzelne schuld
: Der Preis der Freiheit

Selber schuld – das wird zunehmend zum Schlachtruf der Moderne. Wo früher Krankheit, Sucht, Behinderung oder andere Normabweichungen als hinzunehmendes Schicksal galten, heißt es heute immer öfter: „selber schuld“. Menschen, die ihren Rücken krummgeschuftet haben, hören von ihren ÄrztInnen, NachbarInnen, ArbeitskollegInnen: Du hättest ja Ausgleichssport treiben können. Schwangere Frauen werden von ihren Männern und ÄrztInnen unter Druck gesetzt, wenn sie sich einem Gentest und danach einer Abtreibung verweigern, falls der Embryo nicht der Norm entspricht. Eltern, schreibt die Soziologin Elisabeth Beck- Gernsheim, werden heute in einem historisch völlig neuen Ausmaß für das optimale Funktionieren „der knappen Ressource Kind“ verantwortlich gemacht. Der CSU-Vorschlag, die Eltern krimineller nichtdeutscher Kinder auszuweisen, ist eine besonders perverse Spielart dieses Denkens.

Angesichts der finanziellen Erosion der sozialen Sicherungssysteme scheinen wir fast zwangsläufig dem Zeitpunkt entgegenzusteuern, wo Elternschaft ohne vorherigen Gentest bestraft wird; wo Übergewicht automatisch die Krankenkassenbeiträge erhöht; wo Kranke nur noch dann kostenlos behandelt werden, wenn sie eine perfekte Lebensführung nachweisen können, mithin schuldlos erkrankt sind. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten werden wir erleben, wie der Druck auf die Individuen in allen Bereichen erhöht wird.

Damit neigt sich ein historischer Prozeß, den man mangels eingeführter Begriffe Verinnerlichung nennen kann, seinem vorläufigen Ende zu. Früher orientierten sich die Menschen an den äußeren Verhaltensmaßregeln ihres Clans, ihrer Familie, ihrer Gemeinschaft. Heute lösen sich diese Gruppen und Gruppennormen aus vielerlei Gründen immer weiter auf. Früher war klar, daß der älteste Bauernsohn den Hof übernehmen wird, daß die Tochter nur die Grundschule besuchen darf, weil sie eh irgendwann heiratet. Heute wird das einzelne Menschlein schon im zartesten Alter angehalten, frei über sein Leben zu bestimmen. „Individualisierung“, da sind sich viele SoziologInnen einig, ist eine zentrale Erscheinung der Moderne. Vor allem Frauen wissen zu schätzen, welche Freiheiten das eröffnet.

Norbert Elias hat in seinem Werk „Über den Prozeß der Zivilisation“ anschaulich beschrieben, wie die VertreterInnen verschiedener Epochen der Menschheitsgeschichte lernten, ihre Triebe zu zügeln, wie sie nicht nur ihre Sexualität und ihre Aggressivität zunehmend kontrollierten, sondern auch das Herummantschen im Essen, das Rülpsen, Spucken und Furzen langsam unterließen. Mit anderen Worten: Die Außenkontrolle wich zunehmender Innenkontrolle.

Auch Martin Luther war ein wichtiger Vorarbeiter des Kapitalismus: Er sorgte dafür, daß die zahllosen äußeren Vorschriften des Katholizismus durch die innere Gewissensinstanz des Protestantismus ersetzt wurde. Wurde im Mittelalter noch ausschweifend gefeiert, wenn die Arbeit getan war, so galt dieses Vergnügen den ProtestantInnen, CalvinistInnen und PuritanerInnen fürderhin als Sünde. Ohne massiven Triebverzicht und harte Arbeitsethik wäre der Kapitalismus kaum in Schwung gekommen.

In früheren Stadien der Menschheit wurde Schuld als Makel und äußerlich erkennbares Kainsmal gesehen, als hygienisches Problem des fantasierten „Volkskörpers“, das es mit Bußritualen abzuwaschen galt. Gesine Schwan folgert deshalb in ihrem Buch „Politik und Schuld“: Wenn ein Regime es nötig hat, Sündenböcke zu konstruieren, wenn Juden oder Schwarze oder Kapitalisten als dreckig dargestellt werden, dann müssen wir einen Rückfall in die primitiven Vorformen der Moral konstatieren.

Die bekennende Sozialdemokratin Schwan schreibt es nicht explizit, aber nach diesen Kriterien gehörte auch die DDR-Regierung zu diesen Regimen, die ihre Untertanen fast ausschließlich mit äußeren Zwangsmitteln dirigieren. Und tatsächlich erklärt sich der rapide Aufstieg des ostdeutschen Rechtsradikalismus teilweise damit, daß viele Ostdeutsche – vor allem die jungen männlichen – die Innensteuerung ihrer Aggressionen kaum gelernt haben. Als in der Wende der Deckel vom Dampfkochtopf genommen wurde, zischte ein Ausmaß an Aggression heraus, das viele nicht für möglich gehalten hätten. Für die Westdeutschen sollte das allerdings keinerlei Anlaß zur Überheblichkeit sein – sie hatten einfach mehr Glück und ungleich größere Möglichkeiten, sich nach dem Ideal der Moderne als autonomes Individuum zu formen.

Die neue innere Selbststeuerung des Individuums ist jedoch nicht nur ein kulturelles, sondern auch ein ökonomisches Zwischenprodukt. Sie ist sowohl Ergebnis als auch Voraussetzung der dritten individuellen Revolution, der Computerisierung aller Lebensbereiche. Da die Waren sich selbst immer mehr entmaterialisieren und zu Dienstleistungen oder zu nackten Zahlen auf den internationalen Geldmärkten werden, bestehen auch die zentralen Ressourcen dieser Revolution immer mehr aus geistigen Rohstoffen. Das Leben sei eine „lebenslange Fortbildung“, hört man deshalb heute allenthalben. Das klingt hübsch und menschenfreundlich, ist aber genau das Gegenteil: Was man heute gelernt hat, ist morgen nichts mehr wert, die Halbwertszeit gültigen Alltagswissens sinkt rapide. Immer schneller verändern sich die Computersysteme, das Internet, das Telefonnetz, die private Kontoführung, kurzum: das Alltagsleben. Entsprechend steigt der psychische Streß, das alles rechtzeitig und gleichzeitig zu raffen. Wer nicht mithält, ist bald hoffnungslos out und nach der herrschender Ideologie auch noch ganz allein selber schuld.

Das gilt ganz besonders für Erwerbslose. Die lächerlich geringen Teilnehmerzahlen bei den jüngsten Protestaktionen sind der deutlichste Beweis für die Verinnerlichungsthese: Wer seine bezahlte Arbeit verliert, sieht die Ursachen vor allem bei sich selbst. Als vermeintlicher Versager versteckt er oder sie sich voller Scham.

Die Folge ist eine zunehmende Entsolidarisierung. Hier lauthals neue Werte zu fordern, um ihr Einhalt zu gebieten, ist zwar sympathisch, aber naiv. Diese Werte fallen nicht wie Sterntaler vom Himmel der alten bürgerlichen Glückseligkeit. Sie können nur im kollektiven Widerstand gegen diese Entwicklungen entstehen. Ute Scheub