Zerstörtes Leben

■ Ein ganz normaler US-Hinrichtungsfall: Joseph Cannon, der im Todestrakt leben lernte

Washington (taz) – Ein Appell des Papstes konnte ihn nicht retten, und wieder wollten weder das oberste Gericht noch der Gouverneur die Hinrichtung aussetzen. Der zur Tatzeit noch minderjährige Joseph Cannon ist im texanischen Gefängnis Huntsville mit einer Giftspritze hingerichtet worden, die gleich zweimal angesetzt werden mußte. Beim ersten Mal platzte eine Ader, und die Henker hatten Mühe, eine stärkere Vene zu finden. Zweimal richtete der Todeskandidat weinend Abschiedsworte an seine Familie und die des Mordopfers. Seine Mutter brach vor dem Gefängnis zusammen und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert.

Joseph Cannon war 17, als er sein Verbrechen beging, und in den 18 Jahren im Todestrakt entwickelte er sich besser als in den ersten 17. Erst in der Todeszelle lernte er lesen und schreiben. „Selten trifft man Menschen an, deren Jugendjahre sie derart deformiert und zerstört haben“, sagte der Jugendpsychologe José Rodriguez. „Erst in der Todeszelle entwickelte er Ansätze eines Selbstwertgefühls.“

Joseph Lebensgeschichte und Verbrecherkarriere summieren sich zu einem Alptraum. Mit vier Jahren wurde er von einem Lastwagen erfaßt. Eine Schädelfraktur hinterließ Lernbehinderung und eine schwere Sprachstörung. Nach elf Monaten Krankenhaus kam er in ein Waisenhaus. Seinen Vater lernte er nie kennen, dafür vergingen sich die vier Stiefväter, die er bis zum siebenten Lebensjahr hatte, sowie sein Großvater sexuell an ihm. Im öffentlichen Schulsystem kam er nicht unter, ein in Aussicht gestellter Sonderschulplatz blieb ein leeres Versprechen. Joseph schnüffelte so viel Benzin und Klebstoff, daß ein Arzt bei ihm im Alter von 10 Jahren bleibende Hirnschäden diagnostizierte. Mit 14 trank er Insektengift und kam zeitweise in die Irrenanstalt.

Als ihn sein Stiefvater mit 17 aus dem Haus warf, trampte er nach Las Vegas. Aus Hunger brach er in ein Haus ein und begann, den Kühlschrank leerzuessen. Sein Pflichtverteidiger Dan Carabin plädierte im Gerichtsverfahren auf Bewährung und brachte Joseph bei seiner Schwester Anne Walsh unter, mit deren acht Kindern er sich gut verstanden haben soll. Nachts aber, so berichtete Joseph Cannon später, habe er stundenlang wachgelegen und sei von dem Gedanken geplagt wurden, alle Menschen im Haus umzubringen. Am 30. September 1980 beobachtete ein Polizeibeamter dort einen wild schlingernden Wagen, der einen Zaun durchbrach. Der Wagen gehörte Anne Walsh, ihm entstieg Joseph Cannon. Joseph hatte Anne Walsh mit einem Revolver erschossen und sie anschließend zu vergewaltigen versucht.

Nach der internationalen Bürgerrechtskonvention, die auch die USA unterschrieben haben, darf niemand hingerichtet werden, der zum Zeitpunkt der Tat unter 18 ist. Die US-Bundesstaaten aber, in deren Gerichtsbarkeit das Strafrecht fällt, fühlen sich durch internationale Verträge nicht gebunden. Mit Joseph Cannon fand seit der Wiederzulassung der Todesstrafe 1976 die 10. Hinrichtung eines Delinquenten statt, der zur Tatzeit unter 18 war. Am 10. April schlug der Landtagsabgeordnete Jim Pitts aus dem texanischen Waxahachie vor, das Alter, in dem Kinder hingerichtet werden können, auf 11 Jahre herabzusetzen. Peter Tautfest