Die Ära der Assistenten

Fußball-Skulpturen, Kulturquellen und Institutionen auf vier Beinen: Was treibt die Leute scharenweise durch die Galerien in Berlin-Mitte? Viermal im Jahr findet rund um die Auguststraße im Ostteil der Stadt der berühmt-berüchtigte Rundgang statt  ■ Von Wolfgang Müller

Für Besucher, die mit der BVG ankommen, beginnt der Rundgang in Berlin-Mitte mit einer Fahrscheinkontrolle. Im U-Bahnhof Weinmeisterstraße werden die Kunstinteressierten gebeten, ihre Fahrscheine zu zeigen – von echten Kontrolleuren in Uniform. Dies ist keine Performance. Ist es aber Zufall, oder hat der Kunstjournalist Marius Babias übertrieben, als er in einem Artikel die dort ansässige Galerieszene tumb auf dem Weg nach oben wähnte? Auf jeden Fall verlassen die, die gezahlt haben, den U-Bahn-Schacht und strömen ans Tageslicht.

Es ist schon wahr, der improvisierte Charakter rund um die Auguststraße ist verschwunden. Kaum noch Schlammpfützen und Holzbohlen zum Herüberlaufen. Der krumme Nagel, der kokett in der etwas angegangenen Galeriewand steckte – Hinweis auf die Ausstellung vorher – findet sich kaum mehr. Alle Wände sind weiß und viele Böden grau. Der inzwischen viermal im Jahr stattfindende Rundgang befindet sich in konsolidiertem Zustand.

17.02 Uhr. In der Galerie Rainer Borgemeister tupft der Künstler Gerd Rohling noch etwas weiße Farbe auf das Podest, auf dem sich ein Fußballergebnis als Skulptur befindet. Schreie italienischer Fußballfans dringen aus einer dunklen Tonne. Und tatsächlich hat die kopfstehende Radgabel eines Fahrrads auf dem Sockel mehr Ähnlichkeit mit einem balleinwerfenden Spieler als mit einem Sattel plus Lenker. „Manche meinten, das würde dem Stierkopf von Picasso ähneln“, schmunzelt der Künstler. Aber die Radgabel erinnert natürlich irgendwie auch an Duchamps' Fahrrad-Rad – allerdings ohne Rad.

Langsam füllen sich die Hackeschen Höfe mit herumflanierendem Publikum. „Hier könnte man sich das Wohnen vorstellen“, brummelt ein älterer Herr in bayerischer Mundart. Die Hirschhornknöpfe auf seinem modischen Trachtenanzug wippen freundlich zu seinen Worten. Als Nachbar ein Alptraum, als Käufer willkommener Gast. Wer hätte schon etwas dagegen, wenn der Mann mit den Hirschhornknöpfen etwas Schönes kauft? Ich jedenfalls nicht.

Nicole Hackert von Contemporary Fine Arts drückt auf den Türöffner. Zwei Herren in blauer Uniform huschen über den schwarzen Galerieboden. Früher, so betont sie, hätte der Rundgang mehr Sinn gemacht. Es gab unterschiedliche und viel begrenztere Öffnungszeiten der Galerien. „Wir wollen für die Künstler die volle Aufmerksamkeit. Deshalb machen wir auch keine Eröffnungen mehr zu den Rundgängen.“ Aufmerksamkeit wollen auch die beiden uniformierten Herren. Es sind keine Fahrscheinkontrolleure, sondern Künstler, die so ähnlich aussehen wie Fahrscheinkontrolleure. Steif posieren sie in den Räumen vor einer eifrig mit Videokamera herumhantierenden Frau: Konzept, Performance oder Dokumentation? Nicole Hackert wirft einen flüchtigen Blick rüber und bemerkt trocken: „Kenn' ich nicht.“

Schiebeschränke und Sonnenblumen

Mit steten Schritten läuft Berlins fleißigster Ausstellungsbesucher Peter Müller Richtung Auguststraße. Er ist seit über zwanzig Jahren mehrmals täglich bei diversen Eröffnungen zu sehen. Einen neuen weißen Stoffbeutel hat er sich zugelegt. Was da wohl alles drin ist? Vielleicht weiß es Ingeborg Wiensowski von der Charlottenburger Galerie Wiensowski und Harbord. Im hinteren Raum von Schipper & Krome unterhält sie sich angeregt mit zwei interessierten Herren. Die Kommunikation mit den Galeristen von Berlin- Mitte ist gerade für etwas abseits oder vereinzelt liegende Ausstellungsorte und Institutionen von großer Bedeutung. Manche eröffnen hier mittlerweile sogar Dependancen, regelrechte Zweigstellen. So steckt das Künstlerhaus Bethanien aus dem kunstverlassenen Kreuzberg jährlich schlappe 40.000 Mark in seinen Schauraum in der Tucholskystraße. Oder möchte es zumindest reinstecken. Der Schauraum heißt auch Kreutzer & Stutzig und wird zudem von der Akademie Schloß Solitude in Stuttgart genutzt. Galerie Schauraum hätte – finde ich – irgendwie besser geklungen. Aber es gibt ja auch Hör- und Riechräume. Zum Beispiel die galerie refugium, in der es ausgesprochen gut riecht, was aber sicher nicht zum Konzept der Ausstellung gehört. Dann wäre sie nämlich eher eine Art Denkraum, der ja durchaus ein Refugium sein könnte, also eine etwas pathetisierte Zufluchtsstätte. Hinten ist sie jedenfalls sehr schmal und gefüllt mit einer Reihe geheimnisvoller Schiebeschränke.

Von der August- in die Gipsstraße umgezogen ist die Wohnmaschine. Eine schöne Sonnenblume steckt in der Vase am Fenster. Egal ob acht oder zwölf Prozent: Die Grünen haben es geschafft, die Sonnenblume so für sich zu vereinnahmen, daß Galerist Friedrich Look aussieht wie Joschka Fischer, wenn er vor der gelben Blume steht. Und das, obwohl er überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihm hat. Die Einladungskarte der Wohnmaschine ist wiederum in blaugelb gehalten, den Initialfarben der FDP, die im für sie erfolgreichen hessischen Landtagswahlkampf vor drei Jahren mit gelben und blauen Krokussen warb: Der Frühling ist da! Gerade sind auch Eva & Adele eingetroffen, sozusagen eine Institution auf vier Beinen. Mit ihrem hellblauen Lidschatten, geschorenen Haaren und den knallrosa Plastikkostümen stellen sie so etwas dar wie ein zweiköpfiges lebendes Kunstwerk. Eigentlich sind sie auch ihre eigene mobile Galerie. Später werden sie noch in anderen Galerien zu sehen sein und jeden, der sie fotografiert, bitten, ihnen einen Abzug zuzusenden.

Gedränge in der Galerie Barbara Thumm. Aber nur im hintersten Raum. Warum? „Das wüßte ich auch gern. Die Menschen kommen in Schüben“, klärt Assistentin Monika Pischke schmunzelnd auf. Mittlerweile drängen sie sich auch in dem Galerienverbund KunstMitte Berlin. Es ist 20.26 Uhr. Noppenfolie hängt als improvisierter Vorhang über dem Eingang zum Lager. Das ist sicher sehr praktisch. In der „KunstKaufKiste“ werden Multiples mit Zertifikat angeboten, und im „Stöberkeller“ klebt das Schild „Vorsicht Glas“ am Fenster. Schnell wieder nach oben und einen Blick in die Galerie Puttkamer.

Hinter einem Schreibtisch im Raum kramt ein Galerist nervös und ohne die einströmenden Massen wahrzunehmen in einem Berg voller Unterlagen. Davor liegt zusammengefaltet der Kunstmarktteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Oder war es am Ende gar nicht der Galerist, sondern der Assistent? Was nämlich der Kurator Anfang der 90er Jahre war, verkörpert nun der Assistent. Er leitet die neue Ära am Ende des Jahrtausends ein – das ja schon in zwei Jahren da ist. Er soll organisieren, vermitteln, Distanz schaffen und darf dafür auch mal den Nagel in die Wand kloppen. Möglicherweise ist es also der Assistent, der in der Galerie Paula Böttcher ein Baby in der Wiege schaukelt. Ein Kurator hätte so was nicht gemacht. Es ist extrem hell an diesem Ort, der sich zur Zeit „Kulturquell“ nennt. Quelle klingt zwar schön, doch auch die Zeit der Freigetränke ist passé. Trinker gibt es halt häufiger als Kunstsammler. Und sogar noch häufiger als Künstler.

An einer Holzwand neben der Straße klebt ein großer fotokopierter Zettel: Eigenausstellung des Künstlers Karl Lerch in der Remise des Maxwell. Was ist eigentlich eine Eigenausstellung? Wo der Künstler selbst die Bilder malt, hinhängt und die Miete für die Ausstellungsräume bezahlt? Oder wo der Ausstellungsort mit dem Künstler beziehungsweise dieser mit dem Ort eigentlich nichts zu tun haben möchte? Wir wissen es nicht. Wir lesen nur vom „Projekt Maltor“ und denken an ein gemaltes Tor oder an einen malenden Toren, je nachdem.

Novemberstimmung im Frühling

Von der angekündigten Eigenausstellung sind es nur wenige Schritte zur Galerie Eigen + Art. Die hat erst gar nicht aufgemacht. Dabei floß hier noch vor zwei Jahren literweise der Whisky in der „Advicebar“ – alles umsonst! Und Orvieto gab es auch. Eine handgeschriebene Notiz an der Scheibe kündigt die nächste Ausstellung an, die in einigen Tagen stattfinden wird. So lange wird aber gewiß niemand vor der Tür warten.

Eine Forsythie blüht in einem großen Blumenkübel vor der Galerie Dogenhaus Projekte. Doch selbst dieser Frühlingsbote kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der nieselnde Regen und der feuchte, kalte Wind, die unablässig den Rundgang begleiten, trübe Novemberstimmung erzeugen. Die schmalen Räume sind zum Glück gut geheizt. Eine Mutter zerrt ihr Kind aus der Galerie Mehdi Chouakri: Zwei große Ventilatoren sind in die Wand eingelassen. Sie drehen sich nicht. „Inge“, ruft eine ernste Stimme im Dämmerlicht, „die müßten doch eigentlich an sein.“ Von wuchtigen, dumpfen Schlägen begleitet – im Videobild wird ein Hammer gegen die Wand geschlagen – erklingt eine feine, fröhliche Stimme: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's völlig ungeniert!“ Es ist Eva von Adele, die den Reim von sich gibt und dazu amüsiert aufjuchzt. Eigentlich stellt sich die Frage der Anpassung, Angleichung an die anderen oder der Abgrenzung von den anderen Galerien gar nicht. Wahrscheinlich wirkt die Galerie Eva & Adele deshalb momentan so avantgardistisch.

„In Berlin sehen die Galerien jetzt aus wie überall“, meint dagegen später der kanadische Künstler Michael Morris, der für einige Tage in der Stadt weilt. Vom Rundgang hat er nichts mitbekommen: „Ich sitze lieber in meiner Berliner Lieblingskneipe, dem Bierhimmel.“ Es ist jetzt 21.20 Uhr. Im shift e.V. lehnt sich Eirún von der Performancegruppe „Icelandic Love Corporation“ gegen eine mobile Skulptur und schwingt ihre Handtasche: „Am Dienstag ziehe ich wieder nach Reykjavik.“ Ob sie Berlin vermissen werde? Schon, schon, aber einen Galerienrundgang gebe es ja auch da.