„Nur lebendig rauskommen“

Den ersten „China Rock“gab's gratis: Nach mehr als 25 Jahren auf Droge beginnt Christian Lossau im nächsten Monat eine Therapie  ■ Von Lisa Schönemann

n seinem 30. Geburtstag schoß es ihm durch den Kopf: Es ist zu spät. „Vielleicht bin ich inzwischen so verseucht, daß ich nicht mehr clean werden kann.“Da lagen bereits zwölf Jahre mit dem Gift hinter ihm. Christian Lossau war nicht versessen darauf, vom Heroin wegzukommen. Andererseits spürte er: Der Stoff macht seinen Körper kaputt. „Wenn ich von diesem Leben noch etwas haben will, muß ich die Notbremse ziehen“, dachte er. Das war 1983.

Inzwischen zeigen sich unter der schwarzen Baseballmütze des verhinderten Musikers die ersten grauen Haare. Wie oft er den Ausstieg geprobt hat, kann er nicht mehr rekonstruieren. „Die Sucht sitzt höllisch tief. Wenn man die Gelegenheit hat, kommt sie hochgekrabbelt und bahnt sich ihren Weg“, denkt der 44jährige an seine Rückfälle zurück. „Immer, wenn ich ein paar Monate nichts genommen hatte, dachte ich, ich könnte mir eine kleine Dröhnung erlauben.“Diesem Fehlschluß ist er immer wieder erlegen. Christian Lossau möchte reden. Klar und ohne nennenswerte Beschönigungen zeichnet er eine 25jährige Drogenkarriere nach. Mit 18 Jahren hat er sich den ersten Schuß gesetzt. „Warum sieht die Gesellschaft nicht ein, daß ich das Heroin brauche, um das zu sein, was von mir erwartet wird: ein funktionierendes Mitglied.“Obwohl: Wenn er eines niemals sein wollte, dann das.

In aller Ruhe zündet er sich eine weitere Lucky Strike an. Seine Mimik wirkt starr, sein fahles Gesicht wie eine Mauer. Die voluminöse schwarze Daunenweste aus irgendeiner Kleiderkammer ist viel zu dick für diese Jahreszeit. Eine andere hat er nicht, erst recht nicht ein Paar weniger ausgetretene Turnschuhe. Seit einiger Zeit schneidet er seine Nägel wieder, bevor sie über die Fingerkuppen hinausgewachsen sind. „Wenn du dich um die Droge kümmern mußt, kannst du nicht noch auf Körperpflege achten“, erklärt er und fügt ohne Scham hinzu: „Muß schlimm gewesen sein, ich weiß“.

Jahrelang zog er in der S-Bahn von Abteil zu Abteil und bettelte um Groschen. Die schlurfende Gestalt mit dem verdreckten Mantel heimste zwischen Bahrenfeld und Hauptbahnhof immerhin so viel Geld ein, daß es für den täglichen Heroinkonsum reichte. „Ich kann nicht klauen oder alten Omas die Handtasche wegreißen“, rechtfertigt Lossau die Schnorrerei. „Und daß der Staat das Heroin freigibt, kann noch 100 Jahre dauern.“

Christian Lossau hat lange auf der Straße gelebt. Das sei in jedem Fall angenehmer gewesen, als den Wanzen auf dem Fußboden des Pensionszimmers auf St. Georg zuzuschauen. „Es waren so viele, daß man Angst haben mußte, sie würden zusammenstoßen, wenn sich ihre Wege kreuzen“, das Bild ist aus der Erinnerung des Junkies jederzeit abrufbar.

Christian Lossau wurde 1953 in Wolfsburg geboren. Seine Mutter habe immer zu ihm gehalten, nimmt er die Antwort auf die Frage nach seinen Eltern gleich vorweg. Es soll nicht der Eindruck entstehen, seine Kindheit mache ihm zu schaffen. Früher wollte er Musiklehrer werden, nahm Klavier- und Geigenunterricht. Der früh verstorbene Vater hinterließ ihm ein Haus „und Platz für den Stiefvater“. Mit dem Neuen kam der heranwachsende Lossau nicht gut aus. Seine ganze Energie steckte er in die Gründung einer Band.

Mit den Musikern machte er die ersten Erfahrungen mit LSD. Später wurde ihm klar, wie schnell die Traumreise zum Horrortrip werden kann: „Durchtränkt mit Angst hoffst du, da lebendig herauszukommen“, davor graute dem mittlerweile 17jährigen. Er habe „gerade noch die Kurve gekriegt“und kein LSD mehr angerührt. Lossau besuchte eine Fachhochschule in Braunschweig und träumte mit Freunden von einem Bauernhof in Italien. „Das hätte alles ganz herrlich enden können“, sinniert der ehemalige Bandleader. Doch seine Dealer brachten aus Amsterdam gratis etwas Neues mit: „China Rocks“– kleine graue Steinchen, die mit einem Mörser zerkleinert und dann mit Tabak geraucht wurden. Seine Freunde ließen die Finger von den Werbegeschenken. Lossau trug das Heroin drei Tage mit sich herum und probierte es dann doch.

Die Clique, das Studium, die Erbschaft von rund 120.000 Mark zerbröselten innerhalb kurzer Zeit unter seinen Händen. „Irgendwann stand der Christian mit den großen Plänen auf der Straße und wußte nicht mehr weiter“, bilanziert Lossau. Ein Hamburger Arzt verhalf dem Verzweifelten 1978 zu einer drogenfreien Phase. Unverzüglich begann der 24jährige, aus den alten Träumen neue Kartenhäuser zu errichten und meldete sich für die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule an.

Einer der Prüfer gab nach Christians Vorspiel voreilig grünes Licht. Die Euphorie darüber trug den ehemaligen Junkie über die nächsten Wochen. Zwei Monate später wurde er abgelehnt, „das war einer der derbsten Schläge überhaupt“. Mit tonloser Stimme hakt Lossau zum x-ten Male das Kapitel Musik ab und schiebt sein leeres Bierglas mit einer energischen Geste außer Sichtweite. Kurz darauf heuerte er als Tresenkraft an. Das ging solange gut, bis in der Kneipe gedealt wurde und er zugriff. Sein Zimmer und das gemietete Klavier konnte er nicht mehr halten. „Da war ich wieder ganz unten.“Das Verlangen nach der „rosaroten Brille, die einem nur der Stoff verschaffen kann, wenn man wegen Frust oder Depressionen nicht mehr auf der Welt sein möchte“, ließ nicht lange auf sich warten.

1994 starb seine Mutter. Über zehn Jahre hat der Langzeitabhängige mit dem codeinhaltigen Remedacen und allen möglichen Tricks erfolglos versucht, von der Droge wegzukommen. Die langsame Verelendung begann. „Ich hab zweieinhalb Jahre auf Platte gemacht“, zählt Lossau zusammen. Oft stand er wegen kleinerer Vergehen vor Gericht. Eine Geldstrafe wegen Schwarzfahrens hat er 1996 ersatzweise abgesessen. Im Untersuchungsgefängnis am Holsten-glacis wurden ihm die ersten Milliliter der Ersatzdroge Methadon zuteil. Später im Normalvollzug in Glasmoor erlebte er eine Überraschung: „Als ich dort ankam, machte sich ein Mitgefangener gerade einen Schuß zurecht“, staunte der erstmals Inhaftierte, „da sind bei mir sämtliche Sicherungen durchgeknallt“.

Zurück in der Freiheit verschaffte ihm die Entlassenenhilfe ein Zimmer. Um seine eitrigen Spritzenabszesse mußte Christian Lossau sich selbst kümmern. Weder das AK St. Georg noch das AK Altona wollten ihn stationär aufnehmen. Als eine Infektion drohte, bekam der Drogenabhängige im Herbst 1996 ein Bett im Hafenkrankenhaus, das ein halbes Jahr später geschlossen wurde. Dort besuchte ihn eine Sozialarbeiterin der Drogenambulanz. Sie verhalf dem Genesenden zu einem Platz im Methadonprogramm und „lud kommentarlos einen ganzen Stapel Hausprospekte von Therapie-Einrichtungen“bei ihm ab.

Christian Lossau hat sich entschieden. Im Mai beginnt er eine Langzeittherapie in der Nähe von Bremen. „Ich erhoffe mir von der Therapie, daß ich an meine Knackpunkte herankomme, die verhindert haben, daß einer der diversen Entzüge gefruchtet hat“, sagt der Substituierte nachdenklich. Sein neues Ziel sei, Profisegler zu werden. „Und das will ich noch erreichen, bevor ich in die Kiste springe“.