Die Selektion der Wandermäuse

Vom Blick des Narren auf Vernunft und Ordnung  ■ Von Gabriele Goettle

Wenn der Wahnsinn nicht die in einem nosologischen Tableau klassifizierte Geisteskrankheit ist, sondern eine eigene Wirklichkeit hat, die nicht zu pathologisieren oder medizinisieren ist, so stellt sich die Frage: Was ist der Wahnsinn? Michel Foucault

Was hingegen die Psychiatrie ist und wie sie sich auf die Betroffenen auswirkt, ist verifizierbar. Vor 30 Jahren begann sich bei uns parallel zur 68er Studentenbewegung die Antipsychiatriebewegung zu entwickeln. In den Irrenhaus- und Amtsarztstellen saßen immer noch – oder wieder – die alten, oftmals schwer belasteten Nazi-Ärzte. Daß gegen diesen Skandal und gegen die gesamte hermetische Institution Widerstand sowohl denkbar als auch praktizierbar war, bewiesen damals Ärzte wie Dr. Huber und Internierte wie das Sozialistische Patientenkollektiv Heidelberg. Aber das Bollwerk der Institution erwies sich als uneinnehmbar, es konnte weder geschleift noch von den Reformern humanisiert werden. Daß es seit einiger Zeit zu bröckeln scheint, verdankt sich nicht später Einsicht, sondern krassen Sparmaßnahmen. Nicht Basaglia, sondern Bettenabbau „befreit“ die Stigmatisierten von ihren Stigmatisierern. Die Irrenanstalten entstanden mit der Industrialisierung, und es ist anzunehmen, daß sie mit dem Ende der Industriegesellschaft nun auch wieder verschwinden. Ihre Insassen kehren in die Gesellschaft zurück. Die ausgemusterten Irren werden den ausgemusterten Arbeitslosen zugeschlagen. In der Gesellschaft selbst ist die geschlossene Abteilung. Es ist aus mit der Gefährlichkeit der Narren. Kein Herrscher muß sich mehr vor ihrer Wahrheit fürchten, die Narren können tun und sagen, was sie wollen. Vernunft oder Wahnsinn, das ist gehupft wie gesprungen. Der Narr kann in Freiheit untergehen im Abgrund jener Krankheit, die ihm der gesunde Menschenverstand einst zudiktierte.

Aber noch mahlen die Mühlen der Psychiatrie. Vom 30. April bis zum 3. Mai findet in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz eine Veranstaltung statt mit dem Titel: MACHT WAHN SINN – FOUCAULT TRIBUNAL ZUR LAGE DER PSYCHIATRIE. Es wird ein Lehrstück in Prozeßform aufgeführt. Mitwirkende werden Psychiatriebetroffene sein, Anstaltsleiter, fortschrittliche Psychiater, Verteidiger, Soziologen und viele andere. Damit wird sogleich der Versuch unternommen, die Diskussion über Wahnsinn, Gesellschaft und Psychiatrie neu zu entfachen.

(Der anschließende Text gehört nicht zur Inszenierung, er ist aber als freier Beitrag gedacht, der sich ankristallisieren soll an den laufenden Prozeß.)

Die folgenden Begegnungen und Gespräche fanden im Sommer und Herbst 1997 in Berlin statt.

1. Schauplatz: „Seeling-Treff“, Tagesstätte für Arme, eine Einrichtung der Diakonie, in der Nähe des Schlosses Charlottenburg. Im Verkaufs- und Lagerraum eines ehemaligen Ladens sitzen die Armen, werden ausgespeist, spielen Karten, können duschen, Wäsche waschen, fernsehen.

Am runden Tisch neben der Ladentür residiert der Antiquar und liest im hauseigenen Spiegel, ab und zu kichernd. Neben ihm hat eine schlanke blonde Frau von etwa vierzig Jahren grußlos Platz genommen und diverse Schreibutensilien ausgepackt. Ohne Blickkontakt aufzunehmen, beginnt sie zügig Blätter und Postkarten zu beschreiben, mit schnell hingeworfenen, kleinen, rechtsgeneigten Buchstaben. Der Antiquar flüstert mir zu: „Das ist die ,stumme Sekretärin‘, sie spricht nie, und sie schreibt immer Briefe und Karten, schickt aber nie etwas ab, zum Schluß zerreißt sie alles in kleine Stückchen und schmeißt es weg.“

Draußen vor dem Schaufenster steigt ein großer Mann mit Schirmmütze von einem schwarzen französischen Mofa und pocht an die Scheibe, so sehr, daß die „Sekretärin“ erschreckt zusammenzuckt. „Da ist ,Monsieur Roland‘“, ruft der Antiquar erfreut, „jetzt wird es interessant. Er ist in den sechziger Jahren Patient gewesen, bei dem bekannten Psychiater Bürger- Prinz, dann war er eine ganze Weile obdachlos und hat bei Peter gewohnt – den Peter meine ich, der immer zu Lesungen und Vernissagen geht. Seit drei Jahren hat er eine eigene Wohnung in der Pariser Straße.“ Der Mofafahrer steht derweil draußen und unterhält sich mit einem alten Mann, den er mit seinen Einmeterfünfundneunzig weit überragt. Aber, wie um zu vermeiden, so groß zu scheinen, wie er ist, neigt er sich hinab. Irgendwie pinguinartig, mit gebeugtem Kopf, schiebt er sich ineinander, die Schultern in den Brustkorb, den Buckel ins Becken und wirkt so kleiner und überhaupt nicht mehr bedrohlich. Er trägt eine offene Weste, darunter ein Benetton-Shirt, lila Hosen. Um die Hüften bilden sich seltsame Polster, und auch über sie weiß der Antiquar Bescheid: „Was der alles in den Taschen hat, das kann man oft gar nicht glauben, Computerteile trägt er mit sich rum, Spielsachen, Buntstifte, Draht, Schnur, tote Bienen, seinen Tabakbeutel, Nüsse, alles mögliche...“

Der Beobachtete kommt herein, legt dem Antiquar begrüßend die Hand auf den Arm und beginnt aus einem Ökoeinkaufsbeutel kleine Gaben herauszunehmen und zu verteilen. Es handelt sich um eine schwarzrotgoldene Miniaturausgabe des Grundgesetzes. Auch die verblüfften Kartenspieler und die „Sekretärin“ bekommen ein Büchlein mit den Worten: „Damit Sie wissen, auf welchem Boden Sie stehen.“ Dann nimmt er an unserem Tisch Platz, springt aber sofort wieder auf und sagt: „Darf ich den Herrschaften zum Grundgesetz auch noch Teller und Tassen eindecken?“ Er stellt uns das Geschirr sorgsam hin und sagt sanft zur „Sekretärin“: Ich mache Ihnen auch den Somnambulen, ganz nach Wunsch.“ Sich verbeugend, an uns alle gewandt, fährt er fort: „Fühlen Sie sich ganz ungezwungen, und bilden Sie sich ein, Sie hätten eine kostbare Abendkleidung an und säßen im teuersten Restaurant der Stadt. Moment bitte...“ Er serviert uns Früchtetee und einige total zerdrückte mohnbestreute alte Brötchen (Spende eines nahe gelegenen Bäckers für den „Seeling- Treff“) mit den Worten: „Darf es eine Rindszunge sein à la Roland, dazu Petersilienkartöffelchen und Sahnemeerrettich? Ansonsten lassen Sie sich von Ihrer Ärztin was zur Verdauung verschreiben!“

Er setzt sich, sagt: „Ha ja!“ (eine bekräftigende süddeutsche Wendung, die er nach dem Verlassen seiner badischen Heimat beibehalten hat) und beißt beherzt in eines der Brötchen. Während des Trinkens betrachtet er mich über den Tassenrand hinweg. Etwas länger, als man hierzulande üblicherweise Blicke in fremder Leute Augen versenkt, aber vielleicht hat er einfach vergessen wegzusehen. Seine Augen sind hellbraun, ihre Sanftheit wird durch einen stark melancholischen Ausdruck etwas gemildert. Er streicht sich über die schmale, sehr schöne Nase, schenkt Tee nach, räuspert sich und erzählt – ein wenig laut, aber melodisch – dem, der es hören will:

„Um halb drei heute morgen wurde ich wach, um halb vier war ich unterwegs, die Klosterstraße runter und zurück. Den Schlüssel hab ich automatisch abgezogen, weil man ja einen Schlüssel braucht als Mensch. Alles habe ich ratzekahl hinterlassen, ha ja! Aber nicht ganz. Zwei Liter Wein, die werden später getrunken, und ein Dinner für drei Personen war auch noch da, glaube ich. Der vom Arbeitsdienst sagte mir dann: ,Hier sind erst mal fünfzig Mark.‘ Ich sage: ,Na hör'n Sie, das reicht nicht mal für Spirituosen. Und zu essen gibt's nichts?!‘ So geht es mir immer, ein großer Kerl soll ackern. Ich habe für 200 Mark netto gearbeitet, da habe ich weniger, als auf dem Sozialamt. Die anderen 200 Ameisen stecken die sich ein, widerrechtlich! Letztens habe ich eine BVG- Karte beantragt. Man hat mir den Bescheid gegeben: ,Nehmen Sie den Schrubber in die Hand, sonst gibt's nichts!‘ Ich sagte: ,Nein! Putzen kommt für mich nicht in Frage. Geben Sie mir einen weißen Kittel, und ich mache Ihnen den Stationsarzt in jeder Anstalt – oder ich füttere auch die Alten und die Kranken, wasche sie, führe sie am Arm spazieren. Aber ich mache Ihnen nicht die Drecksarbeit im Büro!‘ Mit uns Armen kann man es ja machen. Ich trinke schon ausschließlich Magermilch, und ein Mokka ab und zu wird wohl erlaubt sein! Ich werde vollkommen ignoriert hier, als Bürger, nur weil ich meine Rechte in Anspruch nehme. Gut, sagte ich zu dem Mann, dann ist die Recherche hier zu Ende. Bei mir wird gleich verhaftet und scharf geschossen, auch nachts! Die Anzeige ist sozusagen bereits auf dem Wege, eine Dienstaufsichtsbeschwerde, an Ihren Vorgesetzten.

Dann kam Entspannung, Meditation. Ich gucke mir manchmal die Hochschule der Geschwülste an, im Garten lausche ich dem Gesang der jungen Frauen. Oder ich fahre nach Spandau oder zum Heidelberger Platz und betrachte die Parzellen und wie die Leute auf ihrem winzigen Stück Erde Tomaten, Blumen, Sträucher und Apfelbäume hervorbringen. Ich selbst bin ja mehr für Löwenzahn, gezwungenermaßen. Den hole ich mir im Tiergarten, von ganz hinten, wo die Hunde nicht hinpinkeln. Den esse ich, teils gleich, teils als Salat. Ha ja! Ich bin wie eine Kuh. Esse Grünzeug, kaue gründlich. So werde ich alt. Mindestens so um die Neunzig. Auch Brennesseln esse ich viel, die ganz jungen. Aber ich kann auch richtig! Fleisch, Fisch, Eier, Käse, alles. Nur sind die Dinge außer Reichweite, meistenteils. Aber die Natur ist eine gute Ärztin, ich bin ziemlich gesund. Ha ja! Ich bin nicht wie die meisten Psychopathen, die auch noch ohne jede Vernunft essen. Ich speise.

Ich fahre viel rum, auch mit dem Velo und denke nach. Beispielsweise am Steinplatz, über die Haken, an dem sie an Gedenktagen die Kränze aufhängen, die Killerbabys. Ha ja, das ist alles! Heute morgen kam dort ein Hundelein auf mich zu, es wedelte. Aber das Herrlein sah aus wie ein Roboter. Es telefonierte, sagte immer ja, ja, schaute quer aus seinen Augen heraus und wartete anscheinend, daß jemand kommt und ausschaltet. Ha ja! Ich habe aber vorsichtshalber nichts unternommen. Trotzdem ist er plötzlich weggegangen, und der Hund lief ihm nach. Ich hatte ihm gerade gesagt, daß ich nichts für ihn tun kann, leider.

Ich bin praktizierender Mensch. Genußmensch und Communist, mit C, das bedeutet: sociale Gemeinsamkeit, Liebe, Seelenfrieden. Das verstehe ich darunter.“ Vom Nebentisch wendet sich einer der Alkoholiker, ein ehemaliger Metzgereigehilfe mit rotem Gesicht, an unsere Runde und fragt, ob jemand eine Zigarette hat. Monsieur Roland zieht einen prallen ledernen Tabakbeutel aus der rechten Hosentasche, öffnet ihn, holt ein Blättchen heraus, gibt reichlich Tabak drauf und reicht es dem schwankenden Mann mit den Worten: „Anlecken tust du lieber selber.“ Der Angetrunkene dankt und rollt seine Zigarette routiniert zu Ende und setzt sich rauchend an seinen Tisch zurück. „Seht mal“, sagt Roland, „er ist im Genick ganz zugewachsen, weil er noch unterentwickelt ist. Man muß ihm helfen. Von mir kriegt er Tabak und Schokolade, wenn was da ist, sonst fällt er den Muffen in die Hand.“ Der Antiquar hat, nachdem er mit dem Spiegel fertig ist, die Berliner Zeitung quer über dem Tisch aufgeschlagen und sagt, halb zu sich selbst: „Diese ganzen Meldungen... alles voll! Man liest dies und das, aber im Grunde dreht sich alles immer nur ums Geld!“ Monsieur Roland widerspricht heftig: „Es geht doch nicht ums Geld, es geht um die Selektion der Wandermäuse! Der Herr deckt ein, der Herr deckt aus... Es gibt nur Randale, Adacio, die Couch und den Tod. Ha ja! Mehr ist nicht, Geld ist eine Fata Morgana.“ Der Antiquar lacht glucksend und blättert weiter.

Ich sehe manchmal sehr schwarz – nicht nur für mich“, sagt Monsieur Roland, „doch dann schlucke ich gutes Olivenöl, und es geht sofort besser. Das ist ein Original Marx-Brothers-Rezept, probiert es mal.“ „Du kannst auch Johanniskrautöl nehmen, das hilft gegen Depressionen und beruhigt die Nerven.“ Die „stumme Sekretärin“ blickt plötzlich auf, betrachtet Roland und deutet mit einem verzückten Lächeln auf die Abbildung eines Nestes mit drei Eiern auf seinem T-Shirt, nähert ihren Zeigefinger bis auf wenige Millimeter seiner Brust und läßt ihn dann unvermittelt sinken. Das Lächeln erlischt jäh, mit leerem Blick und desinteressierter Miene packt sie einen Stapel beschriebener Karten ein, zieht ihre schwarze Jacke über ihr schwarzes Kleid und verläßt grußlos den Raum. Der Antiquar sagt: „Schade, nie vergißt sie ihre Karten, ich würde so gerne mal eine lesen.“ „Frag sie doch“, schlägt Roland vor und sagt zum schrumpeligen Brötchen der Entschwundenen: „So, dich werde ich jetzt fressen, denn ich habe die Ehre, in öffentlichen Ausspeisungen dinieren zu dürfen. Man läßt mich nicht verkommen, man hat mir sogar den Knochen gegeben vom Fleisch – und ich habe ihn gierig genommen. Sie! Das ist alles untersucht, von einem russischen Naturwissenschaftler namens Pawlow.“ – „Iwan Petrowitsch, der Pawlowsche Reflex!“ ruft der Antiquar aus, und Monsieur Roland fährt gelassen fort: „Er hat herausgefunden, weshalb man keine Revolution machen kann mit diesem Reflex. Da hilft nur eine Hungerkur und Brennesselkost. Aber man wird ja nach allem süchtig. Nach Liebe auch. Eine Frau kannte ich mal, die war sehr angenehm und lustig, sie hatte damals am Gleisdreieck einen schweren Unfall und wurde Vollwaise. Der habe ich sogar den Lokus geputzt. Wer nicht liebt, der nicht gedeiht! Ich bin Frauenfreund, kein Sexist – genau wie Ecki, mit dem habe ich mich grade gestern unterhalten über dieses Thema.“

Eine etwa fünfzigjährige Frau kommt herein, sie hat halblanges dunkles Haar, ist bleich und hager, ihre Wangen sind eingefallen, Roland erhebt sich, um sie zu begrüßen. Der Antiquar beugt sich zu meinem Ohr und sagt: „Das ist R., die beiden waren mal ein Jahr lang zusammen, dann ging's in die Brüche. Sie ist aus dem Osten, aus Chemnitz, und wurde grade aus der Klinik entlassen. Sie ist stark suicidgefährdet, aber man kann ihr nicht helfen.“ Während sie sich mit knappem Gruß setzt, serviert Roland mit komischer Beflissenheit eine Tasse Kaffee, Milch, Brötchen, Zucker und einen frischen Aschenbecher. Von den Nebentischen her wird der Vorgang spöttisch kommentiert, denn es ist hier der Brauch, daß jeder sich sein Geschirr und Essen selber holt. Voller Wohlgefallen betrachtet Monsieur Roland die essende Frau. Sie zermalmt das Brötchen langsam und gründlich, trinkt schluckweise Kaffee und schweigt. „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen!“ sagt Roland aufmunternd. Sie wirft ihm einen mißbilligenden Blick zu, steckt sich eine Zigarette an und sagt: „Ich war schwer krank. Jetzt haben sie mich als geheilt entlassen, dafür haben sie aber meine Zähne vertauscht oder verloren, sie geben sie mir jedenfalls nicht raus. Wie soll ich da essen?!“ „Sehn Sie“, sagt der Antiquar, „in Schweden kann so was nicht passieren, dort sind alle Gebisse numeriert, so daß keine Verwechslungen vorkommen können.“ Die Frau entgegnet: „Aber die hier, die verlieren auch ein numeriertes Gebiß, da bin ich sicher! Was soll man dazu sagen. Und sonst? Ich mache jetzt Puppen, Marionetten für 60 Mark.“ „Das ist ein ABM-Job, für drei Mark die Stunde“, zischt der Antiquar mir zu. „Hundert Mark sind schon weg“, sagt die Frau, „ein Stickbild habe ich mir gekauft, Garn, einmal war ich Essen, ein Aschenbecher für eine Mark und was zum Rauchen. Schon bin ich pleite gegangen. Jetzt habe ich noch zwölf Kartoffeln. Da wünsche ich mir fast schon die DDR zurück, trotz aller politischen Schwierigkeiten, die ich hatte. Bloß weil ich einen Spruch variiert habe, kam das Theater! Statt ,Lieber rot als tot‘, habe ich immer gesagt: ,Lieber tot als rot‘.“ Monsieur Roland variiert spontan: „Lieber Brot als Not“, der Antiquar sagt: „Lieber Not statt Kot“, die Frau straft ihn mit einem vernichtenden Blick und sagt trocken: „Lieber tot als Brot!“ Roland sagt beschwichtigend: „Rot für die Welt! Das ist doch eine gute Aktion, auf die wir uns alle einigen können.“ Er zieht eine verbogene Kugelschreibermine hervor, notiert die Sprüche auf einer Ecke der Zeitung und reißt sie ab. „Vielleicht habe ich ja bis morgen eine Novelle fertig zum Thema. Die Inspiration kommt oft über Nacht – oder schon heute abend, in der Nazareth-Kirche.“

***

Mehrere Wochen später.

2. Schauplatz: Horstweg, eine psychiatrische Einrichtung, Treffpunkt für ehemalige Psychiatriepatienten und Leute mit derartigen Problemen. Angeboten werden diverse Beratung, Hilfestellung und aufmunternde Aktivitäten. Wie in den Suppenküchen und Wärmestuben gibt es Gebote: keine Drogen, kein Alkohol, kein Sexismus, keine Gewalt. Wer dagegen verstößt, muß mit Hausverbot rechnen.

Auch hier handelt es sich um einen ehemaligen Laden. Heute ist Tanz. Die Musik dringt bis auf die Straße heraus. Gerade spielt man „Angie“ von den Rolling Stones. Der Antiquar sitzt auf der Bank vor der Tür, liest eine gefundene BZ und sagt: „Mir ist es zu voll und zu laut da drinenn, bleiben wir doch hier draußen sitzen.“ Er erzählt, daß Monsieur Roland Hausverbot habe im „Seeling-Treff“, wegen Werfens mit Geschirr. „Er hat ja fast überall Hausverbot. Das schlimmste ist, er wird wohl seine Wohnung gekündigt bekommen. Es soll stinken, in seiner Wohnung. Dann hat er alle seine Möbel auf den Balkon geräumt, dabei ist ein Fenster kaputtgegangen, und nun ist alles naß, vom Regen. Jedenfalls, so hat er es erzählt. sollen Leute kommen, zu einer Wohnungsbegehung, wegen der Hygiene und Sicherheit. Er will sie aber nicht reinlassen, will alles verbarrikadieren. Dann hat er mit der Hausverwaltung ja Ärger, weil er das Treppenhaus beschriftet hat. Weißt du davon? Da hatten welche mal rangeschmiert „Ausländer raus!“, das wurde wochenlang nicht weggemacht, da hat er dann dazugeschrieben: „Hallo Nazis! KZ-Theresienstadt, nie vergessen!“ Nun wurde die Hausverwaltung sofort aktiv. Seitdem ist der Streit im Gange, auch mit anderen Mietern, die sagen, er macht jede Nacht Krach, schlägt Nägel in die Wand, rumort und randaliert. Ich weiß ja nicht... Aber irgendwie kommt mir vor, daß sich bei ihm die Dinge zuspitzen, je mehr er an der Schlinge reißt, um so mehr zieht sie sich zu. Aber im Abfassen von Anzeigen, Eingaben bei Gericht, Beschwerden und Anträgen auf Künstler- oder Filmförderungen, da ist er ja einwandfrei. Meistens folgt trotzdem nichts, es wird aber wenigstens bearbeitet – und immerhin, mal bekam er ein Jahr lang von der Filmförderung eine Kamera ausgeliehen... Ob er die je zurückgegeben hat? Jedenfalls ist er, trotz seiner Sprüche, ganz harmlos und freundlich, aber er reizt die Leute eben damit, daß er nicht nachgibt... Wenn man vom Teufel spricht, kommt er!“

Monsieur Roland kommt angeradelt, mit frischen Lindenzweigen vorn im Korb. Hinten auf dem Gepäckträger ist ein Köfferchen befestigt. Er trägt schwarze Jeans, ein schwarzes Hemd mit bunter Krawatte und schwere schwarze Schuhe. Das Haar ist kurz geschoren und lila gefärbt. Er gibt uns fest die Hand, seine Handflächen sind lila, der Hals und die Ohren ebenfalls. „Keine Angst, es färbt nicht ab“, sagt er, schnallt das Köfferchen vom Rad, öffnet es, holt eine Flasche Krimsekt heraus, einen jüdischen Leuchter, blaue und weiße Kerzen sowie zwei Packungen Mazze.

Er steckt je eine blaue und weiße Kerze in den Leuchter und stellt ihn auf den Boden neben der Bank. Ein älterer Mann mit Prinz- Heinrich-Mütze und Buschhemd wird vom Antiquar begrüßt und betrachtet den Leuchter. Roland überreicht uns eine Zeitung in kyrillischer Schrift, auf dem Titelblatt ist ein Bild von Franz Kafka. „Etwas Lektüre“, sagt er, reißt eine der Mazzepackungen auf und bietet allen davon an, auch den vorbeikommenden Passanten, die teils ablehnen, teils sich geniert ein Eckchen abbrechen. Der mit dem Buschhemd beißt ins zersplitternde Gebäck und läßt es nach einigen Bissen sinken: „Na, das is schon etwas alt, was? Schmeckt ja wie Pappe mit Kleister.“ „Monsieur!“ sagt Roland. „Tun Sie was für Ihre Bildung: Das ist Mazze, gute steinalte Mazze, mehr als dreitausend Jahre alt. Das ist Weltraumnahrung, Astronautenkost, ohne Hefe, ohne Sauerteig, nur aus Wasser und Weizenmehl. Die Kinder Israels haben es erfunden, bei ihrer Flucht aus Ägypten.“ Dann öffnet er formvollendet die Sektflasche. Kein Geräusch, kein Spritzen. Der Antiquar nagt brav an seiner Mazze und sagt: „Darf ich mal einen Schluck, zum Runterspülen?“ Roland reicht ihm die Flasche, der Antiquar macht ein paar hastige Schlucke, hustet, kichert und gibt die Flasche zurück. Roland trinkt etwas mehr, setzt ab und ruft aus: „Ach, das Leben ist eines der schönsten!“ Der Alte fragt, ob es was zum Feiern gibt, und Monsieur Roland antwortet mit tragischem Blick: „Bei mir gibt's gar nichts zu feiern, im Gegenteil! Bei mir geht's à la baisse, schwarzer Freitag. Der Arsch geht mir auf Grundeis auf gut Deutsch! Ich könne mir genausogut den Kopfschuß geben, statt hier nur mit euch die schöne Zeit totzuschlagen.“

Der Antiquar lacht, Roland weist ihn streng zurecht: „Da gibt's nichts zu lachen, Sie glauben wohl, ich mache Witze? Die Angelegenheit ist todernst!“ „Ich weiß ja“, sagt der Antiquar verlegen. „Heute war die Kripo bei mir“, erzählt Roland, „ich sagte den Herren: keine Angst, der tut nichts, wir sind beide zusammen groß geworden, der Leopard und ich. Die Herren wollten wissen, ob ich sportlich bin. Ich sagte: Sport ist meine erste Bürgerpflicht. Ich beuge das Knie.“ Er winkelt im Sitzen das Knie an. „Heute habe ich zufällig meinen Hut vergessen, deshalb der unbedeckte Kopf, ich bitte um Vergebung. Seit fünfzehn Jahren mache ich mir meine Maske alleine. Ha ja, da kenne ich nichts. Komm, trink einen Schluck!“ fordert er den Alten im Buschhemd auf. Der wehrt ab: „Du weißt doch ganz genau, daß ich nichts trinke, ich bin jetzt schon 'ne ganze Weile trocken.“ „Trocken, trocken!“ ruft Roland. „Wie trocken? Vertrocknet! Wir sind alle vollkommen vertrocknet hier, deswegen trinken wir ja.“ „Laß den doch, gib lieber mir noch mal die Flasche“, sagt der Antiquar und verschluckt sich sogleich wieder. Roland nimmt ihm die Flasche aus der Hand und sagt: „Na, na, na, benimm dich. Übrigens, gestern war ich beim Werkbund in der Schlüterstraße, da ist auch einer, der sich nicht benehmen kann. Ein schlimmer Laden ist das, ich kenne ihn noch von der Schloßstraße her, da gibt es diesen Trommler, der hat die marxistische, die faschistische und die anarchistische Internationale getrommelt, und ein anderer, der hat ein Ochsenhorn, mit Lichtern drauf, der hat die Frauen besonders angezogen. Da kommt natürlich Faszination auf. Ha ja! Der sagte zu mir: ,Kriminalität und Geisteskrankheit sind erblich bedingt.‘ Na, da gehe ich die Wände hoch. Ich sagte: ,Fahren Sie mal nach Südamerika, dort sind Sie vielleicht als Götterspeise willkommen, bei den alten Nazis, die dort nach 45 hingeflüchtet sind. Die denken, mit unsereinem können sie alles machen, nur, weil die Ordnung nicht stimmt. Aber mit mir nicht! Ha ja. Hier, nehmt noch Mazze, bitte. Wollt ihr ,Tel Aviv‘ oder die andere Sorte? Komm, nimm, die sind garantiert trocken“, sagt er zum Alten, und der nimmt, weil Roland ihn bittend anschaut. „Deine Brüder, dein Vater, deine ganze Familie, ist die auch trocken?“ fragt der Antiquar. Darauf der Alte im Brustton: „Nein, Gott bewahre! Mein Bruder, der trinkt jeden Tag so seine zwölf bis 15 Biere und noch Klaren, mein Vater, der hat auch gesoffen.“ „Ekelhaft ist das“, ruft Roland, trinkt einen Schluck, kaut Mazze und wirkt angeheitert. „Eigentlich ist das ja Religionsbeleidigung, was wir hier machen, das wäre genau so, wie wenn die Juden auf der Straße Hostien essen...“ überlegt der Antiquar und scharrt die Krümel unter die Bank. „Quatsch!“ sagt Roland, „das kann man doch gar nicht miteinander vergleichen. Monsieur, Sie sind ein Nazi!“ Der Antiquar schlägt scherzhaft mit der Zeitung nach ihm, wie mit einer Patsche, und ruft: „Monsieur, Sie sind ein Arschloch!“ – „Ja, das stimmt genau. Ha ja! Ich bin ein Arschloch. Jeder weiß es, jeder sieht es gleich. Egal! Und Sie“, sagt er zum Alten, „der Sie jetzt ganz trocken und überhaupt kein Arschloch sind, Sie können mit der gesparten Sozialhilfe ruhig mal einen ausgeben, dort vorn ist ein Geschäft.“ Der Alte hebt abwehrend die Hände: „Nee, nee, das brauch ich, das Geld.“ „Ich weiß auch wofür“, sagt der Antiquar, „er trägt alles zu den Frauen, wie Bruno.“ Der Alte widerspricht: „Ich hab mir einen Fernseher angeschafft und einen Kasettenrecorder, so...“ „Und was ist mit der Frau, zu der du immer gehst?“ fragt der Antiquar streng. „Na ich bin doch grade erst dagewesen. Habe 150 Mark bezahlt!“ sagt der Alte. Und Roland, ihn scharf ins Auge fassend bemerkt: „Was ist denn das für eine Liebe, wenn du dafür zahlen mußt?“ Der Alte ereifert sich lauthals, die Passanten gehen langsamer und schauen: „Du, ich liebe die doch, die Kanadierin! Sechzehn Jahre gehe ich schon zu ihr, ich bin mit der alt geworden. Ich kann stundenlang dableiben – wenn grad' nichts los ist – und nicht nur zehn Minuten, wie die andern Kerle. Ich darf von hinten, von vorne und von der Seite, ich darf lecken, alles, so lange ich will!“ „So genau wollten wir das gar nicht wissen“, sagt Monsieur Roland mit schmerzlichem Gesichtsausdruck. Der Alte ruft empört: „Warum, du hast mich doch gefragt! Meiner bewegt sich eben noch, ätsch!“, dreht sich beleidigt um und geht hinein zu den Tanzenden.

Scheißkerl!“ sagt Roland leise, trinkt die Flasche aus und wirft sie mit einem NA SDAROWJE Richtung Bordstein, wo sie beim Aufprall zersplittert. Ein Betreuer kommt heraus und stellt den leicht Trunkenen zur Rede, sagt, daß hier Hunde und Kinder vorbeikommen und sich verletzen könnten, daß es so nicht gehe, daß es eine Hausordnung gebe und Hausverbote, und: „Das heben Sie auf!“ Der Mann ist im Ärger etwas nah herangekommen an den desinteressierten Delinquenten, so daß dieser plötzlich aufsteht, sich in ganzer Größe aufrichtet und im Kommandoton sagt: „Gehn Sie drei Schritte zurück, ich bin Offizier. AUGEN RECHTS! Wegtreten!“ Er läßt den Mann stehen, geht brummend zu seinem Fahrrad, sagt: „Ha ja, bei mir wird scharf geschossen, da gibt's kein Pardon!“ Es wird ein Hausverbot ausgesprochen. „Hier auf dem Trottoir hat euer Hausverbot überhaupt keine Wirkung!“ ruft Roland dem abgehenden Betreuer nach und setzt sich wieder auf die Bank. Der Antiquar sagt: „Beruhige dich“ und Roland antwortet: „Ich bin ganz ruhig. Die sind erregt, nicht ich. Kaum werden sie mal gefordert, verwandeln sich die freundlichen und verständnisvollen Sozialarbeiter in Kapos und erteilen Berufsverbot, äh, Hausverbot, wollte ich sagen. Auch der kleine Gartenzwerg mit der Brille und die dicke Blonde, die immer nur telefoniert und raucht. Am liebsten hätte ich sie mir gegriffen und ein bißchen gequetscht, damit sie endlich, endlich das Geständnis ablegen, daß sie nichts können, nichts wissen, nichts taugen. Die haben mich neulich fünfmal aufgefordert, in ihr Office zu kommen, zum Verhör, oder zur Belehrung. Daraufhin habe ich ein halbes Baguette genommen und gegen die Wand geworfen...“ „Mit Teller!“ sagt der Antiquar, doch Roland widerspricht: „Nix da! Das Baguette sprang wieder zurück auf meinen Teller. Das war die ganze Aggression. Ich hätte sie zusammenschlagen können, dann hätten sie dagelegen, in ihrem blöden Blut, aber ich entscheide mich immer zu sanften Mitteln. Ich bin Künstler und Kulturmensch, soweit. Das sind doch alles traurige Gestalten, die an ihren traurigen Arbeitsstellen hängen. Ich kenne sie lange genug und hab' sie durchschaut. Wir sind Gäste, aber sie versuchen uns zu versklaven, rücken einem zu Leibe und wollen einem das Material ausdecken. Wollen dir an die Substanz. Ich verkehre mit diesen Geiern nur noch schriftlich, Anzeige wegen Körperverletzung läuft. Ha ja. So muß man sie piesacken. Ihr Hausverbot, das ist mir doch Wurscht, aber sie bringen mich durcheinander, stören, so daß zu Hause alles zusammenbricht. Das Telefon versagt seinen Dienst, das Chaos läßt sich nicht bändigen, ich werde sogar eine Räumungsklage bekommen – aus anderen Gründen –, aber Hilfe kann man von denen ja nicht erwarten, im Gegenteil.

Du kannst diesen Menschen noch so überlegen sein, aber sie dominieren dich, von Amts wegen und mit ihrer Borniertheit. Ein gutes Gewissen haben sie auch immer. Ha ja! Die denken, der Roland, der schluckt alles, den ganzen Ärger, der ist lieb, der schweigt, der gehorcht. Aber ich bin doch nicht der Dümmling! Ich hab denen lange genug die Säcke geschleppt, auf meinem Buckel, die Mehlsäcke, aber danach haben sie mich nicht mal versichert. Ich bin nicht versichert! Wißt ihr, was das bedeutet, was das für Folgen haben kann? Im Alter steh ich da mit nix. Ha ja! Aber das allerschlimmste ist, daß sie einen nie in Ruhe lassen können.

Sie kommen von allen Seiten und wollen für ihr bißchen Geld, daß du strammstehst. ,Machen Sie mal dies, machen Sie mal das, reichen Sie hier was ein, und weisen Sie dort was nach, bringen Sie Ihre Unterlagen!‘ Ich hab' immer meinen Identitätsausweis bei mir.“ Er gräbt einen zusammengeknickten Personalausweis aus der Hosentasche, von dem sich die Plastikverschweißung bereits zu lösen beginnt. „Ohne Papiere machen sie dich fertig. Ha ja! Plötzlich hast du Legasthenie, Schizophrenie, Paranoia, bist gemeingefährlich. Sie weisen dich ein, und dort ist der liebe Doktor Faust, und du bist das Gretchen.

Die dümmsten Leute werden in die Helferberufe und in die Administration geschickt, und dort sitzen sie dann als Killerbabys und schlafen, bis einer kommt, auf den sie sich stürzen können. In der Zwischenzeit rührt sich denen kein Furz in der Hose, so tot sind die. Ha ja! Aber jeden Tag mache ich mindestens eine Klage fertig, fürs Amtsgericht. Da sagen sie: ,Aha, schon wieder der Verrückte, der liefert wieder mal 50 Gramm Papier ab.‘ Ich bin ja gerne hilfsbereit, als Bürger, ich nehme ja nur das Gesetz beim Wort und klage verbriefte Rechte ein, aber sie würdigen mich nicht einmal einer Antwort. Für die bin ich Ausland, ein fremder Kontinent. Mittlerweile haben sie mich so weit. Ich kaufe mir Netze und Fangeisen, damit erwische ich sie, auf ihren Parkplätzen, in der Tiefgarage, im Garten vor ihrem Haus.“ – „Dann haben sie dich, dann werden sie dich einliefern und nicht wieder rauslassen“, sagt der Antiquar matt und gähnt verhalten. „Na, da geh' ich doch lieber raus aus Deutschland, hier beantrage ich doch nichts mehr, bei diesen Muffen! Da gehe ich doch rüber nach Neederland, oder besser noch, nach Frankreich. Da nehme ich doch die nächstbeste Mitfahrgelegenheit und haue ab. So wenig willkommen wie hier, bin ich überall, da verlege ich meinen Studiobetrieb und mach die Recherche woanders. Ha ja! Das geht, wies Brezelbacken. So, jetzt fahre ich erst mal nach Hause und trinke einen schönen Lindenblütentee. Madame und Monsieur, laden Sie ihre Batterie auf und beehren Sie mich bald wieder!“

Er schwingt sich auf sein viel zu kleines Fahrrad und fährt, unter Hinterlassung der Scherben, des Leuchters und der halbvollen Mazzepackungen, winkend davon. (Bald darauf verschwand Roland und blieb bis heute verschollen.)