■ Nebensachen aus Paris
: Kampfbegriff in umgekehrter Richtung

Mein persönlicher Lieblingshistoriker ist nègre. Nicht wegen seiner Hautfarbe, sondern weil er sein ganzes Leben lang für andere geschrieben hat. Ausgezeichnete Sachen. Aber anonym.

Solche nègres leisten sich in Frankreich viele. Von den Politikern, die vor jeder Wahl unter dem Druck stehen, sich mit irgendeiner intelligenten Veröffentlichung in Erinnerung zu bringen. Bis hin zu dem wegen Linksabweichlertum geschassten Bischof Jacques Gaillot, der prompt seinen nègre verantwortlich machte, als herauskam, daß Teile seines jüngsten Buches abgeschrieben waren.

Die echten nègres werden nicht beim Namen genannt. Wegen des unangenehmen Beiklangs. Gerade heute, am 150. Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien, sind die Festredner peinlich bemüht, das Wort zu vermeiden. Statt dessen reden sie von „Menschenrechten“ (der Premierminister) und von der „integrativen Kraft der Republik“ (der Präsident).

Bloß in den überseeischen Gebieten greifen ein paar (ganz wenige) Intellektuelle den nègre auf. Als Kampfbegriff in umgekehrter Richtung. So kündigten die „nègres von Guadeloupe und Nachfahren von Sklaven“ ihren Boykott der „Feierlichkeiten der früheren Sklavenhaltermacht“ an.

Der „ursprünglich neutrale Begriff négre ist heute veraltet und abfällig“, erklärt mir das Lexikon „Petit Robert“ und empfiehlt zum Ersatz das Wort noir. Aber selbst das ist in Frankreich problematisch. In den Banlieues, wo Immigranten und französische Ureinwohner am engsten nebeneinander leben, hat sich in den letzten Jahren blacks durchgesetzt. Das ist angeblich nicht diskriminierend. Allerdings birgt black das Problem, daß viele Angesprochene sich selbst gar nicht schwarz finden, sondern antillais – wozu auch eine komplizierte Hitliste von Hautfarben gehört. Ziemlich weit oben steht darauf die chamelle – eine black mit blauen Augen.

150 Jahre nach ihrer offiziellen Abschaffung sind die Spuren der Sklaverei keineswegs verschwunden. Weder in „Übersee“ noch in der Métropole. Dazu mag beitragen, daß in den einstigen Kolonien immer noch die alte Machtverteilung herrscht. Daß bis heute offiziell nicht von einem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ die Rede ist. Und daß auch die Nachfahren der Gewinnler in den französischen Hafenstädten, die 550 Familien von nègriers, nicht beim Namen genannt werden. Die negrillons, die kleinen weißen Negerstatuen, die an den noblen Hausfassaden den Reichtum aus dem Sklavenhandel signalisierten, sind allerdings schon längst aus dem Stadtbild von Nantes, La Rochelle, Bordeaux, St. Malo und Le Havre verschwunden.

Dafür tauchen aber allmählich andere Spuren aus verstaubten Kolonialarchiven auf. Zum Beispiel der code noir aus dem Jahr 1685. Seit ein französischer Historiker das sechzig Artikel umfassende Gesetzeswerk fand, ist bekannt, daß Sklaven „Möbel“ und „Sachen“ waren.

Auch die vergilbten Fotos von „befreiten“ Sklaven, die in Frankreichs überseeischen Gebieten verstärkt den Weg zu einem Ehrenplatz an der Wohnzimmerwand finden, sind eine Neuigkeit. Und die Schulklassen in Martinique, Guadeloupe und Guayana, die sich gemeinsam an die bislang verpönte Ahnenforschung machen, sind vielleicht ein Zeichen jener Negritude als Stärke, von der der Dichter Aimé Césaire schreibt.

Als ich meinen Lieblingshistoriker darauf hinweise, daß er sich vielleicht eines Tages nach einer anderen Jobbezeichnung umschauen muß, lacht der aber bloß und sagt: „Du redest petit nègre.“ Zu deutsch: „Sprich hochfranzösisch.“ Und das ist wiederum sprachlich korrekt. Dorothea Hahn