Der jüngste politische Gefangene der Welt

■ Noch immer fehlen verläßliche Angaben über den seit 1995 verschwundenen 11. Pantschen Lama. Am Samstag ist der zweithöchste religiöse Führer der Tibeter neun Jahre alt geworden

Drei Tage, nachdem der damals sechsjährige tibetische Junge Gedhun Choekyi Nyima im Mai 1995 als Reinkarnation des 10. Pantschen Lama vom Dalai Lama anerkannt worden war, verschwanden er und seine Eltern spurlos. Gleichzeitig wurden zahlreiche Mönche des ursprünglich von China eingesetzten Komitees, das die sechsjährige Suche nach der Reinkarnation durchführte, verhaftet. Sie hatten gegen den Willen Pekings den Dalai Lama bei der Auswahl konsultiert. Als religiöses und weltliches Oberhaupt der Tibeter bestimmte er in einem von Orakeln geleiteten Verfahren schließlich die Endauswahl. Sehr zum Verdruß Pekings gab er das Ergebnis auch noch selbst bekannt, statt, wie von der chinesischen Führung gewünscht, ihr diese Aufgabe zu überlassen. Denn genau das hätte Pekings Herrschaftsanspruch über Tibet und auch die höchste Autorität in religösen Fragen unterstrichen.

Der Pantschen Lama ist nicht nur der zweithöchste Führer der tibetischen Buddhisten nach dem Dalai Lama, sondern spielt auch eine Schlüsselrolle bei der Bestimmung von dessen Reinkarnation. Über die Kontrolle des Pantschen Lama könnte China somit versuchen, einen Peking-freundlichen Nachfolger des jetzigen 14. Dalai Lama einzusetzen. Peking erkennt Gedhun Choekyi Nyimas nicht als 11. Pantschen Lama an. Ironischerweise warf Peking dem Dalai Lama vor, buddhistische Praktiken verletzt zu haben, die von der chinesischen Führung früher selbst als reaktionär gebrandmarkt worden waren. Ein neues von Peking eingesetztes Gremium bestimmte dann sechs Monate später einen Sohn tibetischer Mitglieder der kommunistischen Partei Chinas zum neuen, Peking-genehmen Pantschen Lama.

Erst zwölf Monate nach dem Verschwinden des vom Dalai Lama bestimmten Pantschen Lama räumte Chinas Regierung ein, den Jungen zu verstecken. Er und seine Familien seien auf Wunsch der Eltern unter chinesischen Schutz gestellt worden, behauptete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua, damit er nicht von tibetischen Separatisten gekidnappt werde.

Bis heute gibt es nur widersprüchliche Angaben über den Aufenthaltsort von Gedhun Choekyi Nyima, der aus dem 250 Kilometer von der tibetischen Hauptstadt Lhasa entfernten Dorf Lhari stammt. Dem österreichischen Außenminister Wolfgang Schüssel erzählten Chinas Behörden bei dessen Tibetbesuch im März, der Junge lebe in seinem Heimatort. Noch kurz zuvor wurde einer US- Delegation gesagt, Gedhun Choekyi Nyima sei in Peking. Während chinesische Vertreter behaupten, der Junge gehe zur Schule und genieße Bewegungsfreiheit, konnte dies von unabhängiger Seite bisher nicht bestätigt werden. Niemand hat Zugang zu dem Jungen. Es ist deshalb zu befürchten, daß der Pantsche Lama von den chinesischen Behörden gefangengehalten wird. Für Menschenrechtsgruppen ist er „der jüngste politische Gefangene der Welt“.

An Samstag, dem 9. Geburtstag des Pantschen Lama, haben weltweit Tibet-Unterstützergruppen mit Aktionen an sein Schicksal erinnert. Auch die hungerstreikenden Tibeter in Neu-Delhi wollen an das ungeklärte Schicksal des Pantschen Lama erinnern. Sven Hansen