VEB Horch und Gauck

■ Jürgen Fuchs hat mit „Magdalena“ eine subtile Abrechnung vorgelegt, auch mit dem Wahrnehmungsdefizit westlicher Autoren gegenüber der Diktatur. Auch eine Gegenkritik

Das ist eines der ungewöhnlichsten Bücher der deutschen Gegenwartsliteratur. Als wäre Wolfgang Borchert auferstanden. Aber als jemand, der sich intensiv mit Psychologie und mit anderen Methoden zur genauen Beobachtung der Menschen beschäftigt hat.

„Unsere Feinde verlassen die Hölle, und wir betreten sie.“ Der Satz könnte als Motto über einem Buch stehen, das sich mehrerer literarischer Genres bedient. Eine Art inszeniertes Gedächtnisprotokoll mit essayistischen und poetischen Passagen. Das Ganze hoch verdichtet.

Oft genügt Jürgen Fuchs ein Satz, um ein gesellschaftliches Psychogramm zu entwerfen. Da überreicht ein heute in der Gauck-Behörde angestellter ehemaliger Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) dem Autor ein Dokument über den Tod seiner Schwiegermutter. Fuchs über diese plötzliche Nähe der Täter: „Er unterlief etwas, ich mußte danke sagen für etwas, was er zu verantworten hatte.“ Oder Fuchs, der Vogtländer, faßt die Beschimpfungen einer kleinen Hamburger Zeitschrift gegen DDR-Dissidenten in einer treffenden Beobachtung zusammen: „Sie wollen Schmuckstücke ihres Hasses aus uns machen.“ Seinen Ton und sein Thema hat sich der 1977 gegen seinen Willen nach West-Berlin hinausfreiwilligte Autor im Laufe der Zeit und oft gegen die politischen Zeitläufte erarbeitet.

„Magdalena“ nimmt Elemente und Motive aus den Arbeiten von Fuchs seit den siebziger Jahren auf. Die ersten Gedächtnis- und Vernehmungsprotokolle, die beiden Gedichtbände und jene beiden Romane über die DDR-Armee, die eigentlich schon Bücher über die Geschichte von Anpassung und Gehorsamsverweigerung sind. Wichtig auch die dramatischen Versuche im Rundfunk und vor allem sein Stück über den Verkauf der Landeskinder (gemeint ist der Abkauf politischer DDR-Flüchtlinge). Während seine politischen Essays stets zur Kenntnis genommen wurden, blieben die literarischen Arbeiten, an die „Magdalena“ anknüpft, viel zuwenig beachtet. „Magdalena“ konzentriert, es ist Fuchs' gewichtigstes Buch.

Da gibt es die Episode über einen namentlich genannten Spiegel- Korrespondenten, der Jürgen Fuchs die intensive Überwachung in West-Berlin nicht glaubt. Der Leser erfährt diese Haltung kurioserweise aus dem Bericht eines Stasi-Mannes, der als IM den Spiegel-Redakteur abschöpfte. Natürlich könnte dies zu verrückten Geschichten weitergesponnen werden. Wer wollte einen Autor daran hindern, den Journalisten zu anonymisieren und selbst in einen Agenten zu verwandeln? Oder der DDR-Informant läuft zum BND über – frei nach dem Motto „Je mehr Geheimdienst, desto größer die Spannung“.

Doch Fuchs nimmt sich aus der Vielzahl literarischer Möglichkeiten das Recht heraus, möglichst hart an der Wahrheit zu bleiben. Die Nennung realer Personen in großer Zahl wirkt da wie ein Kunstgriff, der vor jedem Flunkern bewahren soll. Der Erinnerer zwingt sich zur Direktheit. Und da wird der schon erwähnte Spiegel- Mann nicht zum Bösewicht stilisiert, man kann ja seine Vorbehalte verstehen. Aber Fuchs erkannte die politische Situation eben ein wenig genauer. Diese eine Differenz in der Wahrnehmungsfähigkeit einer Situation erscheint marginal, die Summe der Differenzen markiert weiterwirkende Spannungen, die das Buch sichtbar und unsichtbar durchziehen. Wie ging die Bundesrepublik mit Diktaturerfahrungen um? Welche Schlußfolgerungen zieht sie heute daraus oder verweigert sie? Da darf nicht nur an China und den Iran gedacht werden. Das sind die aktuellen Aspekte eines Romans, der vorhandene, genutzte, verspielte oder zielgerichtet blockierte Möglichkeiten oppositionellen Handelns unter DDR-Möglichkeiten wie in einem Panorama aufblättert. Selbst wer das Buch literarisch nicht akzeptiert, müßte es als Sammlung genau recherchierter Materialien und interessanter Textteile mit Gewinn lesen.

Das Buch erinnert daran, daß die Auseinandersetzung mit den schriftlichen Hinterlassenschaften der Staatssicherheit nicht mit und nicht in der Gauck-Behörde begann. Bürgerrechtler stürmten einige Stasi-Zentralen und ordneten Bestände, die sie teilweise schon auswerteten. Wir erfahren, wie Reiner Kunze sein Material zu „Deckname Lyrik“ erhielt.

Auf einer anderen Ebene beschäftigt sich „Magdalena“ mit der Gauck-Behörde heute. Über den Untertitel „VEB HORCH & GAUCK (statt „Horch & Guck als Spottwort für Stasi) erregen sich Rezensenten. Der Spruch spielt auf den beleidigenden Umstand an, daß die Akten jetzt als „Gauck-Akten“ kursieren. Was sagte Fuchs zu seinem Untertitel?: „Wir haben mit Wolf Biermann in der Küche gesessen, ein bißchen herumgeflachst und gesagt: Eigentlich sind wir alle Mitarbeiter von Horch und Gauck.“

Ein Kritiker schrieb, Fuchs strebe einen Alleinvertretungsanspruch für Opposition an, eine besondere Heldenrolle. Dies kann eigentlich nur Ergebnis projektiven Verhaltens seitens des Betrachters sein. Denn Fuchs hinterfragt solche Rollen unablässig, auch ironisch. Er zerstört seinen hohen Ton durch mitunter quälendes Differenzierungsbemühen. Eindrucksvoll sein Nachdenken über Robert Havemann und dessen frühere Geheimdiensttätigkeit. Der aus purer Normalität erwachsende Ungehorsam steht im Mittelpunkt.

Im Grunde stellt Fuchs ein ganzes intellektuelles Milieu mit seinen Ritualen in Frage. Das löst Abwehrreflexe aus. Als ich von meiner Geschäftstüchtigkeit in einem wiedergegebenen MfS-Plan las, ertappte ich mich bei Abneigung gegenüber dem Gelesenen. Wer würde sich nicht gern im nachhinein besser in Positur bringen vor dem fotografisch sezierenden Licht der Akten – Fuchs verweigert die Retusche.

Auch bei sich. Er nimmt die Sprache der Stasi-Offiziere auf, ihren humorigen bis menschenverachtenden Zynismus. Teile des Buches wären gut als Hörstück vorstellbar, in dem Autorenmonolog sind verschiedene Perspektiven ineinandergebaut: das Erlebnis, die Betroffenheit darüber, die Analyse der Betroffenheit und die Reaktion auf diese Analyse. Die Mehrstimmigkeit schafft einen abstrahierenden Stil, der sehr alltäglich direkt wirkt, aber kunstvoll gebaut ist. Weitab von jeder Plauderprosa. Der Stil lädt Details mit Bedeutung auf. Personenbeschreibungen werden so gelegentlich überfrachtet und typisiert, da sie oft mit wenigen Äußerlichkeiten auskommen müssen. Doch diese Details sind in einen Komplex gespannter Wahrnehmung eingebaut, der über 500 Seiten sich voranschreibt.

Wie sichtbar oder unsichtbar präsent ist die Vergangenheit in der Gegenwart? Oder, wie es der Rezensent der FAZ erkannte: Eigentlich ist „Magdalena“ ein Buch über die Bundesrepublik und ihre Wahrnehmungsmuster. Den Umgang mit der DDR-Vergangenheit als ein Beispiel einer Fehleinschätzung der Ost-Realität durch West- Analyse zeigt Fuchs immer wieder. Was richtete sie an? Im Fall von Matthias Domaschk nur die Einstellung eines Verfahrens, weil ein Richter meinte, die Stasi werde jenen 1981 unter rätselhaften Umständen in Stasi-Haft zu Tode gekommenen jungen Arbeiter schon nicht umgebracht haben, weil er ja nicht so wichtig und bekannt war. Nun war es in der DDR bis zum Schluß so, daß einem um so weniger passierte, je bekannter und durch Öffentlichkeit geschützter er war. Gerade die relative Anonymität von Domaschk bei gleichzeitig aktiver oppositioneller Tätigkeit (Kontakte zur Charta nach Prag) gefährdeten ihn außerordentlich. „Magdalena“ ist auch ein Buch über die Unfähigkeit, auf weiterwirkende Spannungen angemessen zu reagieren. So gerät es fast zur Metapher für die generelle Unfähigkeit, auch auf andere drängende Fragen angemessen zu reagieren. Jürgen Fuchs besteht auf einem Gewinn in der für den einzelnen letztlich immer verlorenen Zeit. Und löst durch das Buch diese Forderung ein. Lutz Rathenow

Jürgen Fuchs: „Magdalena. MfS. Memfisblues. Die Firma. VEB Horch & Gauck – ein Roman“. Rowohlt Berlin 1998, 551 Seiten, 45 DM

zur weiteren Lektüre: Alexandra Schichtel: „Zwischen Zwang und Freiwilligkeit. Das Phänomen Anpassung in der Prosaliteratur der DDR“. Westdeutscher Verlag, Opladen 1998, 256 Seiten, 40 DM