„Wir stehen vor einem Neuanfang“

■ Hans-Jochen Tschiche sieht das bisherige Bündnis 90 am Ende. Die Perspektive eines Neuanfangs liegt in den Großstädten. Es dauert jedoch vier bis acht Jahre, bis sich eine Basis neu gebildet hat

taz: Herr Tschiche, die Bündnisgrünen bei 3,2 Prozent, läßt sich dieses Ergebnis noch mit dem Beschluß zum Benzinpreis erklären?

Hans-Jochen Tschiche: Das ist sicher eine der Ursachen. Entscheidender aber ist, daß der sozio- kulturelle Hintergrund, aus dem die Grünen im Westen hervorgegangen sind, im Osten immer schwach war.

Die Bündnisgrünen sind groß geworden als die Partei der Bürgerbewegung. Ist dieses politische Kapital mittlerweile verbraucht?

Die Bürgerrechtler sind auch in den anderen Parteien zu finden. Deshalb kann man beim Bündnis90 auch nicht mehr von eine Art Nachfolgeorganisation derer reden, die die Wende in der DDR herbeigeführt haben.

Das andere Standbein der Bündnisgrünen, die Ökologie, hat sich auch nicht gerade als Wählermagnet erwiesen.

Im Westen hat sich in den siebziger Jahren ein Milieu der Grünen herausgebildet, das man mit den Stichworten selbstbestimmtes Leben, Emanzipation und Umweltschutz umschreiben kann. Eine entsprechende Entwicklung hat es in Ostdeutschland nicht gegeben. Deshalb haben wir keinen sozialen Hintergrund, er wächst allerdings allmählich. Wir haben bei der Wahl in Sachsen-Anhalt zwei interessante Ergebnisse erzielt, die dem Trend entgegenlaufen. Im Zentrum von Halle und in Magdeburg stehen wir bei acht beziehungsweise sechs Prozent. Das stützt meine These, daß die Bündnisgrünen ein Wählerklientel im wesentlichen in Großstädten haben. Das kann sich erst nach und nach auf das flache Land ausdehnen. Die Bündnisgrünen im Osten waren eine Kopfgeburt einiger weniger ohne soziales Hinterland. Das muß jetzt allmählich wachsen.

Stehen Sie an einem Neuanfang?

Ja, wir stehen im Grunde am Neuanfang. Wir können uns nicht mehr auf die Tradition von 1990 berufen. Wir brauchen das aufgeklärte Bürgertum, das im Westen vorhanden war und das im Osten allmählich wächst.

Die Grünen wachsen im Osten mit dem Fortschreiten der westlichen Lebenskultur?

Ja, denn die postmoderne Dienstleistungsgesellschaft wächst auch im Osten. Und wir haben gerade in den Großstädten überall noch relativ starke Parteigruppierungen. Man darf jetzt nicht trauernd zurückschauen. Es ist ein Neuanfang, auf den man sich einlassen muß.

Müssen die Bündnisgrünen künftig andere Schwerpunkte setzen?

Die Bewahrung der Schöpfung wird nach wie vor unser Thema sein, auch wenn es von den sozialen Spannungen, die durch die Arbeitslosigkeit hervorgerufen werden, verdeckt wird. Das ökologische und das ökonomische Denken gehören zusammen. Diese Einheit muß vermittelt werden.

Ihr Parteivorsitzender Jürgen Trittin warnt vor dem Rückzug in die Öko-Nische.

Wir können diesen Teil unserer Tradition nicht verdrängen. Wir müssen dafür sorgen, daß die Teilhabe an der Gesellschaft mit der Schonung der Ressourcen zusammengebracht wird. Das wurde von den Bündnisgrünen beschlossen, allerdings sehr ungeschickt vermittelt, so daß alle Welt nur von dem Fünf-Mark-Benzinpreis spricht.

Soll der Beschluß modifiziert werden?

Der Beschluß wird auf die kommenden vier Jahre hin konkretisiert.

Wie lange wird es dauern, bis sich das neue soziale Milieu der Bündnisgrünen zu einer tragfähigen Wählerbasis entwickelt hat, die über fünf Prozent liegt?

Man muß mit einem Zeitraum von vier bis acht Jahren rechnen. Je weiter wir von der DDR entfernt sind, desto besser wird sich das entwickeln.

Werden Sie diese Entwicklung weiterhin begleiten?

Ich habe ein gesegnetes Alter, so daß ich es nicht muß. Aber kritische Situationen haben mich schon immer gereizt. Interview: Dieter Rulff