Von Brehm's Tierleben zu Kassandra

■ „Zu Hause bei Gerhard Marcks“: Das Gerhard Marcks-Haus verlockt zum Stöbern

Während Sie eben gemütlich mit ihrem Frühstückskaffee Drippings auf unserer schönen Zeitungsseite veranstalten, befinden sich diverse schwergewichtige Marckswerke auf hoher See. Am 8. Mai wird nämlich in Windhoeks „National Art Galerie of Namibia“eine Marcksausstellung eröffnet – mit der Unterstützung des Gemüse- und Fruchtimporteurs „ATLANTA“. Kunst gegen Bananen: Auch ein Aspekt unseres geliebhaßten Welthandels. Trotz dieses vorübergehenden Kunstexports verfügt das Gerhard Marcks-Haus über ein ausreichendes Warenangebot, um seinem Hausvater wieder mal eine Hommage zu gönnen. Sie ist ausgesprochen liebenswert. Und mutig! 3.000 Zeichnungen aus einem viermal größeren Gesamtbestand stapeln sich in Marcks' originalen Archivschrank, schlampig wie der Papierkram auf Ihrem Schreibtisch. Keine Absperrung, kein Alarmgepiepse. Der Ausstellungsbesucher wird endlich mal nicht als potentieller Kunstvernichter betrachtet. Und so dürfen Marcks Entwürfe wieder schnödes, fließbandfabriziertes Arbeits- und Erinnerungsmaterial sein statt Kultobjekt für Nachgeborene.

Im Raum nebenan gruppieren sich eine Buchversunkene, ein Dornauszieher – pardon, ein „Zehenzähler“– ein staksiger Hirte und andere Kleinplastiken zu einem familiären, klassenüberschreitenden Kreis statt vereinsamt unterm Glassturz zu schmoren. Die Skizzenserie von einer Nackten wurde lockerflockig über eine Wand aufgefächert: Überlappen erlaubt.

Die Nackte ist übrigens in Rückenansicht zu sehen. Prüderie? Von wegen! Marcks' weibliche Frontansichten hat sich der Kunsthandel unter den Nagel gerissen. Männer gibt's dagegen im Marckshaus-Bestand aus allen erdenklichen Richtungen zu bewundern. Irgendwo an der Wand hängt ein Fetzen Stoffdesign. Eine relativ naturalistische Statue steht (und basiert!) auf einem Stapel Anatomiebücher. Und mitten durch die vielen Nackten huschen beanzugte und berüschte Familienangehörige geisterhaft über Dialeinwände. Keine Frage: Man will weg vom pretentiösen Getue um Kunst. Nur Adam und Eva, apfellos und unbefleckt, dürfen in erhabener Einsamkeit ihre Blicke zum roten Entenhäuschen im Gartentümpel hinterm Haus schweifen lassen. Toll plaziert!

Jetzt aber chronologisch. Der 16jährige Marcks entwickelt einen identifikatorisch-metaphorischen Zugang zum Baum: die Einsamkeit der Kiefer in unwirtlichen Bergeshöhen; aber auch die harmonische Zweisamkeit von siamesischen Pappel-Zwillingen. Daneben dupliziert der junge Marcks aber auch Brehm's Tierleben. Raubvögel haben es ihm besonders angetan. Und in einem der vielen Skizzenbuchschwarten blickt eine ältliche Nonne – seine Lehrerin? – gravitätisch an einer roten Nelke und diversen Kindsköpfen vorbei. Ein Medizi-nerfreund schleppte aus der Anatomie Arme und Beine an, „die dann verschwiegen zurückgebracht werden“. Da eignet sich einer Brocken für Brocken Wirklichkeit an.

Den so gesteckten Raum zwischen innerer und äußerer Realität wird Marcks nicht mehr verlassen. Avantgarde, Volkskunst und Antike hinterlassen darin ihre Spuren, aber auf äußerst dezente Art. 1921 ziehen die Begrenzungen von Gärten und Äckern lustige Karomuster übers Papier: lupenreiner Klee, aber renaturalisiert. Marcks läßt sich von den Kollegen der Bauhausjahre 1919-25 nicht grundsätzlich beeinflussen. „Der Idee in abstracto bin ich nicht fähig.“Eher reizt ihn schon das Töpferhandwerk „nach alter Väter Sitte“. Ähnlich wie die Blauen Reiter erprobt sich Marcks mit einem „Osteraltärchen“in naiver, kunterbunter, volkstümlicher Gläubigkeit. Doch die Zeit fordert andere Haltungen. In den 40er Jahren treten gehäuft die Verzweifelten der Antike auf: Prometheus, Tantalus und Kassandra. Daneben gibt es aber auch eine freundliche Antike, viel pummeliger und irdischer als jenes „Vorbild“, das die Aussteller dahinter auf einem Bucheinband zum Vergleich anbieten.

Auf einem Foto ist Marcks zu beobachten, wie er an einer massig-kompakten „Betenden“werkelt, ein wenig steif, ein wenig eingeschnürt in seiner schwarzen Kluft. Auf einem weiteren Foto aber bemüht er sich mit Hilfe der neuen Freikörperkultur redlich und angestrengt um die Wiedergewinnung antiker Würde: Hier dürfen wir schmunzeln über Marcks als nackten, gestählten Olympioniken vor großem, weitem Meer.

Wechselnde Körperbilder ringen da um ein humanistisches Menschenbild. Irgendwo zwischen Bescheidenheit und Selbstbewußtsein, Geradheit und Krummheit wird es sein, oder? bk

Bis 28. Juni