Wenn aus Oberlehrern „Zecken“ werden

■ Mit Frontalunterricht über Demokratie ist bei Glatzen und Mitläufern nichts zu gewinnen. Politische Bildung braucht Anlässe. Jugendliche sollen selbst Verantwortung übernehmen

Berlin (taz) – Für die JugendarbeiterInnen in den sachsen-anhaltinischen Plattenbausiedlungen hatte sich das zweistellige Abschneiden der Deutschen Volksunion (DVU) früh angedeutet. „Wir gehen diesmal wählen“, hörten sie von den Twens in den Jugendclubs, „und zwar Protest.“ So machten die Jugendlichen ihre Kreuzchen extrem rechts – und katapultierten die DVU zur stärksten Partei unter den Jungwählern. Ganze Szenen und Gruppen hatten sich offenbar abgesprochen, den etablierten Parteien einen Denkzettel zu verpassen.

Selbst abgebrühte Sozialpädagogen und Streetworker waren vom Ausmaß des DVU-Erfolgs überrascht. „Wir hatten mit acht Prozent gerechnet“, gibt Titus Simon seine persönliche Wahlprognose wieder. Der Jugendforscher lehrt an der Fachhochschule Magdeburg. Anders als die erschrockenen Wahlanalytiker weiß er, mit wem er es zu tun hat.

Der Kern der rechtsorientierten bis rechtsextremen Szene besteht zunächst aus den Organisatoren, den „etablierten Altglatzen“, wie Simon sie nennt. Sie sind ökonomisch abgesichert und wollen andere für ihr stramm rechtes Weltbild gewinnen. Widerhall finden sie bei jenen, die nicht erst seit Sachsen-Anhalt als typische Extremwähler gelten: junge, männliche Azubis oder Arbeitslose. Unter den 18- bis 24jährigen hält die DVU unangefochten Platz eins.

Die Forschung macht seit Jahren in dieser Altersgruppe einen latenten Rechtsextremismus aus, der sich in rund 15 Prozent der Wählerstimmen niederschlagen kann. Diesmal kam noch die rechte „Popkultur“ hinzu. Protestwähler, „die morgen schon was ganz anderes wählen“, so ein Jugendarbeiter. Für sie ist es Protest, eben nicht die PDS zu wählen – denn da machen Papi und Mami nicht selten ihr Kreuzchen. Die Mixtur aus Gutorganisierten, immer schon Anfälligen und Popwählern bereitet auch hartgesottenen Jugendforschern wie Titus Simon Kopfzerbrechen. „Es ist in Europa einmalig, daß die extreme Rechte die stärkste Gruppe unter den Jungwählern ist“, sagt er. Und auch er weiß keine Antwort auf die entscheidende Frage: „Ob daraus eine gefestigte politische Orientierung wird?“

Wie ist dem Phänomen beizukommen? Kann man Glatzen, Mitläufer und Protestler politisch aufklären? Der Leiter der sachsen-anhaltinischen Landeszentrale für politische Bildung, Bernd Lüdkemeier, zuckt mit den Schultern: „Wir erreichen die doch nicht.“ Weil dazu die Kapazitäten fehlen. Und weil Lüdkemeier und seine Mitarbeiter nicht direkt junge Leute schulen, sondern sogenannten Multiplikatoren Demokratie und Rechtsstaat näherbringen, Sozialkundelehrern zum Beispiel.

Die Lehrerschaft findet der Politikwissenschaftler Wolfgang Renzsch naiv. „Die gehen teilweise mit einem völlig idealisierten Demokratiebegriff in den Unterricht“, bemängelt Renzsch, der Innenpolitik an der Uni Magdeburg lehrt. „Gute Politiker, die sich ehrlich fürs Vaterland einsetzen – da lachen die SchülerInnen doch!“ Die Folge: Selbst unter Abiturienten hatte die DVU mit „biedersten und dümmsten Stammtischparolen“ (Renzsch) Erfolg.

Wer glaubt, er müsse der halbwüchsigen Neurechten mit dem Auswerfen neuer Feuerwehrprogramme Herr werden, liegt falsch. Selbst die Plattenbausiedlung Neu-Olvenstedt ist mittlerweile gepflastert mit Projekten. In Magdeburg gibt es mehr als dreißig Einrichtungen der Jugendarbeit. Die Polizei ist es nun, die eine unheilige Konkurrenz in die Szene trägt. Unter den Streetworkern, „die seit Jahren den Kopf hinhalten“, macht sich darüber Verdruß breit. Während die Polizei ein Nottelefon in Magdeburg mit 27 Leuten ausstaffieren kann und dafür gute Presse bekommt, muß sich die Handvoll szeneorientierter Projekte der Kumpanei mit den Neonazis zeihen lassen.

Derweil ist mit frontalen Formen der Jugendarbeit keine Schnitte zu bekommen. Gemeint ist ein Aufklärungsstil, bei dem der Oberlehrer auf die SchülerInnen einredet. „Ihr seid doch selber nur Zecken“, schallt es von den Belehrten zurück. Jugendarbeit muß eine Beziehung zu den jungen Leuten herstellen, betont Jugendforscher Simon. „Und daraus ergibt sich vielleicht ein Anlaß, um so über den Nationalsozialismus zu arbeiten, daß die Kerle was verstehen.“

„Die Neonazis auf die Schulbank setzen?“ Aila-Leena Matthies lacht. Aus Finnland hat die Professorin für Sozialarbeit Erfahrungen mit Wohngebieten wie dem von Jyväskylä mitgebracht: „Dort ist die Arbeitslosigkeit mit 39 Prozent größer als die Wahlbeteiligung von 38 Prozent.“ Ein Drei-Staaten-Projekt über „neue lokale Politik gegen soziale Ausgrenzung“ versucht auch in Magdeburg die Situation zu ändern.

Im Mittelpunkt steht dabei nicht politische Bildung, sondern das Lebensverständnis der Kids. Das Problem: Es ist immer noch arbeitszentriert. In den Plattenbausiedlungen aber gibt es keine Arbeit für die Jugendlichen. Sie wissen oft nichts mit sich anzufangen. „Wir müssen ihnen die Fähigkeit geben, auch ohne Arbeit gut leben zu können“, beschreibt Matthies. Das geschieht zum Beispiel, indem die Jugendlichen selbst eine leerstehende Kita rekonstruieren. So wie sie es wollen und in Zusammenarbeit mit einer Bürgerinitiative. Für Matthies ist das Wichtigste, „daß die Jugendlichen die Verantwortung bekommen“. Christian Füller