"Bildung kann keine Erwerbsberufe anbieten"

■ Hartmut von Hentig, der Nestor der bundesrepublikanischen Pädagogik, im Gespräch über die Aufgaben der Bildungspolitik, enttäuschende Universitäten und das Leben der Tamagotchis

taz: Bildung hat spätestens seit Roman Herzogs vielbeachteter Rede zur neuerlichen Bildungskatastrophe eine erstaunliche Konjunktur. Selbst in der Wirtschaft macht man sich Sorgen darüber, was die Kinder in der Schule lernen. Überrascht Sie das als jemand, der sich seit Jahrzehnten mit Bildungspolitik befaßt?

Hartmut von Hentig: Man sagt Bildung, und man meint Ausbildung. Nur ist Ausbildung eigentlich nicht die Aufgabe der öffentlichen Schule. Warum leistet das die Wirtschaft nicht selbst, wenn sie von jungen Leuten so sehr abhängt, die ihre Maschinen bedienen sollen? Warum tut sie sich so schwer, Ausbildungsplätze zu schaffen? Sie baut sich doch auch ihre Fabriken.

Wäre es denn überhaupt wünschenswert, daß die Wirtschaft das übernimmt?

Die Ausbildung, ja. Woher kommt denn die Erwartung, daß wir die Wirtschaft gleich dreifach unterstützen: ihr liberale Gesetze machen, die ihr alles erlauben, ihr Subventionen geben und dann auch noch die fabelhaft ausgebildeten jungen Menschen bieten? Unter Bildung verstehe ich etwas ganz anderes. Wenn man Lehr- Veranstaltungen macht, egal ob an Schulen oder Universitäten, geht es zunächst nicht um Wissen, sondern darum, was sie Kindern an geistiger und sittlicher Nahrung geben. Wir müssen zuerst die Frage beantworten: Was braucht ein junger Mensch, um in dieser Welt frei, würdig, für andere nützlich zu bestehen?

Wird das von der Schule denn nicht geleistet?

Ich habe manchmal das Gefühl, daß die Schule die Förderung von Gaben eher verhindert als fördert. Wir setzen die Kinder in diesen Kunstkasten Schule: in vier Wände, an resopalbeschichtete Tische. Erwachsene mögen ihr Leben verkünsteln. Aber Kinder sollten in diesem Lebensabschnitt, in dem sie ihre Sinne, ihre Werte, ihre Aufmerksamkeit entwickeln, zum Beispiel ein Feuer machen dürfen, ein Wasser stauen, ein Tier halten. Sie werden dadurch nicht zu den Wilden von Rousseau. Aber wir müssen ihnen Zeit für elementare Erfahrungen geben. Im 45-Minuten-Takt geht das schlecht.

Wollen Sie viele kleine Bielefelder Laborschulen haben, deren Konzept Sie einmal mitentwickelt haben?

Eines der großen Unglücke unseres Schulwesens ist, daß von den 700.000 beamteten Lehrern ein ganz großer Teil etwas lehrt, was ihn gar nicht interessiert. Und wenn einem Lehrer doch etwas wichtig ist, weil er zum Beispiel innerhalb seines Faches etwas Neues entdeckt hat, dann steht das nicht im Lehrplan: Er muß aber machen, was und wie es da steht. Darum brauchen wir dringend die Autonomisierung der Schule, von der so viel die Rede ist. Es bedeutet, daß die Schule ihre Gegenstände wählen darf, eigene Verfahren anwendet und ihr Geld selbst verwaltet.

Glauben Sie, daß die einzelnen Schulen, wenn sie die Möglichkeit dazu bekämen, die Aufgabe bewältigen könnten?

Es geht nicht allein darum, ob sie es können. Sie müssen es auch wollen. Sich trotz Autonomie weiter wie ein Schalterbeamter verhalten, das geht nicht. Man muß wissen, wofür man die Freiheit braucht. Die muß einem viel wert sein, auch Mühen über die Tarifstunden hinaus. Autonomie ist daher kein einfacher oder gar billiger Weg, um aus der Finanznot herauszukommen.

Manchmal sieht es aber danach aus, als profitierten die Kämmerer am meisten von dieser – wie es in Berlin heißt – „Schule in eigener Verantwortung“.

Das ist sicher eine Gefahr. Der Gedanke aber ist, daß Schulen ihre Mittel künftig nur für ein Programm bekommen, an dem sie gearbeitet und sich ihre Möglichkeiten bewußt gemacht haben.

Und wie sorgt man dafür, daß diese autonomen Schulen nicht machen, was sie wollen?

Es muß staatlicherseits allgemeine Richtlinien geben: die Grundsätze der Aufklärung, der Demokratie, der Humanität. Innerhalb dieses Rahmens haben die Schulen die Freiheit zu sagen: Diese Ziele erreichen wir mit diesem oder jenem Leitbild.

Im immer noch preußisch geprägten Verhältnis von Schulaufsicht und Pflichterfüllung käme eine Autonomie in Ihrem Sinne einer Kulturrevolution gleich.

Da müssen wir in der Tat umlernen. Mit der Autonomie hat man es schwerer als mit dem alten System: Man muß sich mit seinen Kollegen einigen, die alle so bunt verschieden sind wie wir. Das ist schwierig. Aber es geht. Mein großes Vorbild dafür ist schon seit langer Zeit Los Angeles. Es gab, als ich 1978 für die OECD als Gutachter dorthin kam, große Probleme mit den neuen Rassengesetzen. Man mußte die Schülerschaft mischen. Also hat man gesagt, es soll jeder an die Schule gehen, an die er will. Alle Schulen mußten sich ein Programm geben, sagen, was sie eigentlich wollen und können. 25 grundverschiedene Typen kamen dabei heraus.

Jede Schule war anders?

Und jede war bedeutend.

Es gibt auch heikle Fälle autonomer Schulen. Birgt ein solches Modell nicht auch Gefahren?

Das stimmt. Da kommt noch einiges auf uns zu. Ich denke zum Beispiel an Scientology-Schulen oder an Islamschulen. Soll man die zulassen? Doch wohl nicht! Weil die Schule eben vor allem lehren soll, wie man sich verständigt – unter Menschen über Sachen; sich seines Verstandes zu bedienen – man nennt das Aufklärung. Wir kämen in Nöte, wenn es Schulen gäbe, die undemokratischen Verfahren und unaufgeklärten Prinzipien folgten.

Was hieße das für die Gesellschaft?

Die res publica ist jetzt schon in Not. Wir erleben es an allen Ecken und Enden. Unsere parlamentarische Demokratie wird offenbar der Probleme nicht Herr – obwohl sie ein außerordentlich kluges Instrument ist.

Heißt das, Sie zweifeln an der Demokratie?

Nein. Aber Demokratie ist zunächst Laienherrschaft. Regierung durch das Volk, den Laien also. Die Welt wird immer komplizierter, immer spezialisierter, und der Laie soll darüber entscheiden – das ist ein kaum einzulösender Anspruch. Die res publica bedarf der mutigen Bürger, die dem großen Apparat gewachsen sind. Nur, das sind wir doch gar nicht!

Wie kann Bildung dem abhelfen?

Die Bürger werden diesen Apparat nur kontrollieren können, wenn sie ihn verstehen und, wo nicht, fragen: Was bedeutet das? Das habt ihr uns zu erklären! Wir geben keinen Pfennig her, bis wir es nicht verstanden haben. Man sieht sofort, daß das eine große Aufgabe für die Bildung ist. Wenn man Schüler mit dem Festhalten von Informationen und dem Einhalten bornierter Regeln auslastet, dann haben sie nicht gelernt, was man in dieser Gesellschaft vor allem braucht: Mut, unbequeme Fragen zu stellen. Es wird abgetan als Störung, als Verhinderung, wenn die Leute sich in Gorleben oder Ahaus auf die Gleise setzen und bitte sehr erst wissen wollen, ob diese Entsorgung von Atommüll wirklich taugt.

Was ist mit den Abgeordneten, die der Laie dazu gewählt hat, den Apparat zu kontrollieren?

So funktioniert es ja nicht. Unsere Parteien, die die Abgeordneten aufstellen, sind gerade nicht die Instanz für Sachkenntnis, sondern für Interessenwahrnehmung. Mein politisches Ideal wäre: spezialisierte Einrichtungen, nicht spezialisierte Menschen. Bei uns ist es umgekehrt: Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, die sich für alles zuständig halten, und Bürger, die sich spezialisieren müssen. Das verkehrt die Herrschaftsverhältnisse. Die Institutionen sollen uns dienen und nicht wir ihnen. Wir brauchen alle ein gehöriges geistiges Training, um Herren über die Verhältnisse zu bleiben. Aber die vom Neoliberalismus dominierte Gesellschaft wird diese Anstrengung nicht leisten wollen. Sie betreibt lieber Auslese.

Sprechen Sie damit die Modi der Elitenbildung an?

Ja, wobei sie selbst sich lieber Experten nennen. Dann braucht man das anstößige Wort Elite gar nicht. Tatsächlich handelt es sich um Funktionseliten.

Genaugenommen wäre das eine spezialisierte Intelligenz, die im Unterschied zu Intellektuellen nicht mehr über das Allgemeine räsoniert. Was haben Sie dagegen?

Die entscheidende Frage ist: Wie bringen wir es zuwege, daß es in diesen Funktionen mehr Edzard Reuters gibt, mehr Markus Bierichs oder Alfred Herrhausens? Leute, die einen über ihre wirtschaftlichen Kenntnisse hinausgehenden gesellschaftlichen Verstand haben. Aber das ist nicht die Lösung. Die muß in der Bildung des Bürgers liegen.

Warum haben Sie so wenig Vertrauen ins Parlament? Dort kommt doch ein Querschnitt aller zusammen.

Die Parlamentarier tun gar nicht mehr, was ihre Aufgabe ist: nämlich zu erörtern, ob die vorgeschlagene Maßnahme dem Gemeinwohl entspricht. Dazu muß man sich das noch mal vor Augen halten. Was ist das Gemeinwohl im Fall Garzweiler: Erhaltung von Arbeitsplätzen oder Abbau von Subventionen oder Schutz der Umwelt? Das kann man nicht nachschlagen wie eine Telefonnummer. Deshalb müßte man dieser Frage vorbehaltlos nachgehen. Statt dessen kommt man mit fertigen Koalitionsvereinbarungen daher, „geschnürten Paketen“, wie das Bild sehr schön sagt. Das ist die eigentliche Bildungskrise, daß wir niemanden mehr haben, der prüft, was das Gemeinwohl ist.

Wenn die politische Klasse das Gemeinwohl nicht prüft, wer könnte es dann, und wo wäre der Ort, es zu tun?

In der Öffentlichkeit, in den Medien und vor allem an den Universitäten. Aber die Politik hat sich ihrer bemächtigt. Es ist alles in Laufbahnen, Rahmenpläne und Gesetze eingefaßt. Es ist doch beschämend, wie wenig diese bedeutenden Einrichtungen zu unserem öffentlichen Leben beitragen. Da sitzen die promovierten und gelehrten Menschen, und was sie sagen, bewegt nichts und niemanden.

Was wollen Sie tun, um das wiederzubeleben?

Vor 20 Jahren hätte ich zuversichtlich gesagt: Zunächst mal die Hochschullehrer aus ihrer Verbeamtung herausholen, aus dieser tödlich sicheren Laufbahn.

Ein Kernpunkt der Universität nach dem humboldtschen Ideal ist das Gespräch zwischen dem Professor als dem ausgebildeten Forscher und dem Studenten, einem jungen Menschen, der ungeniert fragt. Ist dieses Band zerrissen?

Das ist eher ein langsamer Prozeß gewesen. Das Gespräch ist irgendwann versiegt. Im wesentlichen aufgrund der Größenverhältnisse, aber auch aufgrund innerer Gesetze der Wissenschaftsentwicklung. Der in seiner Spezialisierung denkende Professor hat dem Anfänger wenig zu sagen. Dieser müßte doch ganz anders in die Probleme eingeführt werden. Aber die Assistenten, die sind auch nicht bei ihrem Lehrauftrag, sondern irgendwo an der Forschungsfront.

Sehen Sie Möglichkeiten, dem abzuhelfen?

Wir haben mal versucht, dem Professor die Einführung der Studenten in die Wissenschaft abzunehmen. Das Bielefelder Oberstufenkolleg ist ja nicht erfunden worden, um die gymnasiale Oberstufe zu ersetzen, sondern als Alternative zu Eingangssemestern in der Universität. Das Kolleg umfaßt die letzten Jahre der Schule und die ersten der Universität.

Heißt das, daß Sie sich verabschiedet haben von der humboldtschen Idee?

Umgekehrt: Nur so ist sie zu retten! Nun ist der Forscher für seine Doktoranden, für zukünftige Forscher da. Wenn man viel Geld hat und die Professoren gewaltig vermehrt, geht es auch anders – oder wenn man die Studentenzahl verringert – was die Gesellschaft nicht wollen kann.

Das geschieht aber. Alle Entwürfe für die Reform der Universitäten laufen darauf hinaus: Der Zugang wird beschränkt – über Zugangsbarrieren, über das Austrocknen des Bafög.

Das Problem ist, daß wir das Erwerbssystem so eng an das Bildungssystem ankoppeln. Wir würden alle gern haben, daß Menschen hohe Geistigkeit entfalten. Aber wir können ihnen keinen Erwerbsberuf anbieten, den sie damit bestreiten. Aber Roman Herzog und die Zeitungen, die jetzt alle über Bildung schreiben, fragen nur: Wie effizient ist eigentlich unser Ausbildungswesen?

Bildungsminister Rüttgers präferiert den Terminus Wissens gesellschaft – mit der Befürchtung, die Bundesrepublik könne international nicht mehr wettbewerbsfähig sein.

Dieselben Herren, die uns die Wissensgesellschaft schmackhaft machen wollen, sagen, daß die Halbwertszeit des Wissens dauernd schrumpft. Der Wissensexplosion kann der Mensch doch gar nicht nachkommen. Da muß in der Bildung ein anderer Umgang mit dem Wissen gefunden werden.

Wie soll der aussehen?

Wenn der Mensch in dieser Welt frei, würdig und nützlich existieren will, dann darf er sich eben nicht die falsche Vorstellung machen, daß einem der Computer oder das Internet Wissen liefern. Man bekommt Informationen, und die können zu Wissen werden, wenn ich weiß, zu welchem Zweck. Sonst sind es nur gestapelte Informationen. Mit „Die Schulen ans Netz und dann ist Deutschland wettbewerbsfähig“ ist nichts gewonnen. Wir müssen die Probleme verstehen und diese hochintelligenten Knechte, die Computer, zur Arbeit kommandieren.

Ist das ein Plädoyer gegen den Computer?

Überhaupt nicht. Der ist eine der genialsten und genau dadurch beängstigenden Erfindungen. Alles, was über den Menschen ist, muß sie ängstigen; was unter sie gebracht werden kann, kann ihnen nützen. Der Computer, der am Bankschalter und im Touristenbüro gute Dienste leistet, darf nicht zum anonymen Herrscher über unser Leben werden.

Ist das nicht ein bißchen weltfremd? Die Kids kommen in die Schulen und erklären den Lehrern ihr neues Computerspiel.

Wir müssen mit der kurzen Zeit, die die Kinder zum Aufwachsen haben, sehr sorgfältig haushalten. Jede Stunde, die sie an solchen Spielen verhocken, wird ihnen die Zeit für andere Erfahrungen genommen. Und Erfahrungen brauchen Zeit.

Wir haben nur eine Kindheit, und die ist für die elementaren Erfahrungen da. Aus ihnen kommen die Anlässe zu lernen. Auf einem Ausflug haben Kinder stundenlang Raupen beobachtet. Nun wollen sie mehr wissen, verlangen nach Büchern. Im Internet...

...lassen sich auch Raupen finden.

Nein, Abbildungen und Wörter. Die Kinder der Laborschule waren fasziniert von Grzimeks Igel-Film. In der Wirklichkeit kann man einen Igel nie so in seiner Höhle kriechen sehen. Aber als ich sagte: „Hier habe ich einen richtigen Igel“, war ihnen Grzimek egal, und der stinkende Igel, voller Flöhe und zu nichts zu bewegen, fesselte sie, weil er geheimnisvoll war und sich nicht ausplauderte.

Was würden Sie mit einem Kind machen, das sich nur für sein Tamagotchi interessiert?

Ich hoffe, daß es merkt, daß daran etwas fehlt: Leben.

Interview: Christian Füller

und Harry Nutt