■ Schlagloch
: Thema da. Thema erledigt. Von Nadja Klinger

„Ich verwahre mich dagegen, daß bestimmte Gruppierungen heute die Geschichte für sich in Anspruch nehmen.“

Hans-Jochen Tschiche,

Mitbegründer des Neuen

Forum und letzter

Fraktionschef der

Bündnisgrünen im Landtag

von Sachsen-Anhalt

Ein Thema allein genügt nicht, um zu reden. Es muß einen Anlaß geben. So wie sich die Kolumne an einem Zitat hochspult, über ein paar Absätze hinweg sinniert, um in der dritten Spalte zum letzten Satz zu kommen, braucht auch die Öffentlichkeit einen Anlaß, der sie in Stimmung bringt, die eine Zeit überdauert und alsbald ein Ende findet.

Meist ist der Anlaß ein Datum. Ein Ereignis jährt sich, oder irgend etwas steht an, und man kommt ins Gespräch: anläßlich des Frauentages über Gleichberechtigung, zum Kindertag über Kinder, im Herbst über die RAF, im November über die Mauer, Weihnachten über Einsamkeit und im heißen Sommer über das Klima. Die Themen werden mit nachlässiger Regelmäßigkeit aufgegriffen und wieder fallen gelassen. Manchmal steht auch kein Termin an, aber es gibt Interesse, ein bestimmtes Thema zur Sprache zu bringen. Jemand braucht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Dabei ist es oft nicht einmal notwendig, daß sie sich eine Meinung bildet. Es genügt eine Laune, um Massen oder gar eine Mehrheit zu gewinnen.

„Wir müssen aufpassen, daß die Stimmungen auch in Stimmen umschlagen“, erklärte Ministerpräsident Reinhard Höppner vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Und nach der Wahl begründete der Bundeskanzler die Niederlage seiner Partei: „Es ist uns nicht gelungen, die gewaltigen Anstrengungen, die wir zur Verbesserung der Lebenssituation unternommen haben, den Wählern überzeugend darzustellen.“ Politiker schöpfen aus dem Dilemma der Gesellschaft, die, anstatt dauerhaft zu diskutieren, durch jede Debatte in Stimmung zu bringen ist.

Auf ihrem Parteitag Mitte April schickte sich beispielsweise die SPD an, ihr Grundsatzprogramm von 1989 um die Leistungen und Erfolge der ostdeutschen Sozialdemokratie zu ergänzen. Um die entsprechende Debatte zu führen, gab es sogar drei Anlässe: den Parteitag, die bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt sowie das Interesse der SPD vor den Bundestagswahlen, vor allem im Osten einen guten Eindruck zu machen. So bescheinigte die Partei ihren Ostgenossen, einst das erste und entschiedenste Zeichen gesetzt zu haben, um die DDR von innen heraus zu überwinden.

Neben Hans-Jochen Tschiche vom Neuen Forum beschwerte sich auch der Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs, Ehrhart Neubert, über die „einseitige und sehr verkürzte Betrachtung der Wendegeschichte“. Der Groll der beiden ist verständlich und trifft zugleich die falschen. Zwar erzählt die SPD Märchen, doch bräuchte sie ja keiner zu glauben. Aber niemand in Deutschland kann sich dagegen verwahren, daß Geschichte, da sie nicht gegenwärtig ist, immer wieder neu erzählt wird. Beklagenswert wäre vielmehr das Nichtvorhandensein von dauerhaften Debatten, ob zu Vergangenheit oder Gegenwart: Es ist üblich, sie nicht zu führen, sondern lediglich die Themen „in Anspruch zu nehmen“, sie termin- und interessengemäß zu benutzen. Das reduziert nicht nur den Gesprächsstoff in der Öffentlichkeit, sondern begrenzt die Sehweisen.

Im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen Sportärzte und Trainer der DDR wird wieder einmal über Doping debattiert. Eigentlich hätte dies, seit die Sportschulen im Osten nicht mehr in der DDR stehen, ein Dauerthema sein müssen. Zwar ahnte man zunächst mehr, als man wußte, zwar lagen erst nach und nach Beweise für Umfang und Schwere des Medikamentenmißbrauchs vor. Dadurch war es aber lediglich unmöglich, konkrete Schuld zuzuweisen, was kein Grund gewesen wäre, das Thema auf Dauer aus dem Bewußtsein auszublenden. Heute ist die Sichtweise der Öffentlichkeit auf die Täter und die Taten beschränkt, sind aus den Sportlern von damals die „Dopingopfer“ geworden. Denn der Anlaß der Debatte ist zugleich ausschlaggebend für ihren Verlauf. Die Öffentlichkeit hingegen hätte sich mit Massen von Trainern, Medizinern, Lehrern, Erziehern, Therapeuten, Verwaltern, Funktionären, Eltern und Kindern beschäftigen müssen. Zahllose Menschen in den Sportklubs konnten erkennen, daß es sich bei den Tabletten nicht um harmlose Vitaminpräparate handelt. Zahllose Eltern haben die körperlichen Veränderungen ihrer Kinder ignoriert oder fahrlässig Trainern und Ärzten vertraut. Zahllose Kinder und Jugendliche haben sich daran gehalten, zu Hause nichts zu erzählen, und auch als sie mündig wurden weiter geschwiegen. Und selbst die Mädchen, die gleichzeitig die Pille nehmen mußten und dadurch erfuhren, daß ihr Körper sich veränderte, daß eine Schwangerschaft eine Katastrophe wäre, bauten darauf, die sportliche Leistung steigern zu können. Zahllose Lehrer und Erzieher schließlich mischten sich nicht ein.

Für die öffentliche Debatte ist es kein Thema, wer welche Funktion und Verantwortung hatte, sondern wer in Sportschulen, Familien und Internaten, in dem zwischenmenschlichen Geflecht, das der DDR-Leistungssport hervorbrachte, freiwillig die Verantwortung für wen und was übernahm. Über Motive wäre zu sprechen, über Moral, über Gewissen.

Deshalb sollten wir uns über niemanden, der uns mit einer öffentlichen Debatte in Stimmung bringt, beschweren. Ohne Termindruck oder vordergründiges Interesse würden wir niemals auf Hintergründe zu sprechen kommen. So hat die deutsche Öffentlichkeit ja auch erst über 50 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz in der Debatte darum, ob und welches Holocaust-Mahnmal die deutsche Hauptstadt haben sollte, festgestellt, daß sie keine Gedenkkultur hat. Aber selbst diese späte Erkenntnis hat sie nicht zum Weiterreden verleitet. Eines der Modelle für das Mahnmal, so ist es politisch gewollt, wird sich durchsetzen. Es ist Zeit, die Debatte zu beenden. Thema erledigt.

So ist das Wahljahr einerseits total verlogen, andererseits offen wie kein anderes Jahr. Denn wir reden mal wieder: über die Ränder unserer Gesellschaft und über unsere Mitte, darüber, wie frustriert manche von uns sind, wie arm oder reich, über den Wechsel und das Benzin, über Gesichter und Vertrauen und Programme und wer von uns was von all dem braucht. Die Themen erledigen sich, indem sie aufkommen, und wem es da passiert, daß fünf Mark in der Öffentlichkeit hängenbleiben, der versteht eben nichts davon, etwas für sich in Anspruch zu nehmen.

Hätten wir jedes Jahr ein Wahljahr, dann würden pausenlos irgendwelche Leute Themen für sich in Anspruch nehmen, und andere würden sich dagegen verwahren. Wir, die Öffentlichkeit, würden uns, kaum zum letzten Satz gekommen, schon wieder hochspulen. Das wäre dann doch so etwas wie eine dauerhafte Debatte, wenn auch eine verlogene. Ich bin für ein Leben in der dritten Spalte.