Die Angst vor dem großen Schlag

Im Kosovo mehren sich die Anzeichen dafür, daß es in den nächsten Tagen zu einer großangelegten Aktion der serbischen Armee gegen die Albaner kommen könnte  ■ Aus Priština Erich Rathfelder

Für die Menschen in der kosovo-albanischen Hauptstadt Priština sind die Kampfzonen noch weit entfert. Nur wenige können sich vorstellen, was dort wirklich vor sich geht. Zehntausende demonstrierten zwar gestern wie fast täglich mit den Rufen „Drenica, Decani und Rugova“ wieder einmal gegen die Repressionspolitik. Noch überwiegt die Hoffnung, die serbische Führung könnte durch internationalen Druck zum Einlenken gebracht werden.

Doch Schritt für Schritt wird auch in Priština die Repression verstärkt. Wenn ein Albaner an einem serbischen Kiosk einen größeren Schein wechseln will und einfach das Geld einbehalten wird. Wenn wieder einmal die Verkehrspolizisten den Wagen stoppen und ein saftiges Strafmandat ausstellen, obwohl sich der Autofahrer ganz korrekt verhalten hat. Wenn die Reisenden der Buslinie Belgrad–Priština von der Grenze Kosovos bis Priština bei den Kontrollstellen Geld an die Polizisten bezahlen müssen – 50 Dinar (8 DM) pro Polizist und Kontrollstelle –, dann wird das noch mit dem Satz abgetan: „Das sind wir gewohnt.“

Die Nachricht jedoch, es gebe schon Pläne, auch die Hauptstadt „militärisch zu sichern“, läßt manche Mütter und Väter daran denken, doch das Angebot von Verwandten in Makedonien anzunehmen und wenigstens die Kinder dorthin zu bringen. Schon jetzt ist niemand mehr vor dem Zugriff der Polizei sicher. Nicht nur die Polizisten, auch die serbischen Zivilisten sind bewaffnet, am letzten Mittwoch wurden für jene, die noch nicht über Waffen verfügten, Maschinenpistolen, Munition, Handgranaten ausgegeben. Dieser „Schutz für die serbische Zivilbevölkerung“, wie es von serbischer Seite heißt, wird von den Albanern so verstanden: Jeder Serbe ist jetzt ein Soldat.

Nicht mehr nur klammheimlich ist die Freude vieler Albaner, als, wie am Montag geschehen, vier serbische Polizisten in einen Hinterhalt der albanischen Untergrundkämpfer (UCK) geraten waren. „Wenn die internationale Gemeinschaft uns nicht helfen will, müssen wir uns selbst helfen“, sagt ein Mann. Die Bürger der Hauptstadt, auch viele Intellektuelle, neigen dabei dazu, in ihrer Phantasie die UCK stärker zu machen, als sie ist. Die alltägliche Unterdrückung fordert Rachegelüste heraus. Wenn man selbst nichts unternehmen kann, dann doch wenigstens die Untergrundkämpfer.

Als am Montag mittag acht der eine Woche zuvor an der albanischen Grenze in einen serbischen Hinterhalt geratenen Männer aus Hereq in ihrem Heimatdorf begraben werden, sind die Augen sorgenvoll auf den nahe gelegenen Hügel gerichtet, wo die Umrisse der serbischen Soldaten klar zu sehen sind, die von dort aus mit Artillerie und Panzern das flache Gelände beherrschen. Tieffliegende Hubschrauber stören die Zeremonie. Die Toten, im Alter zwischen 20 und 37 Jahren, hatten eine Woche zuvor versucht, Waffen über die Grenze und wahrscheinlich in dieses Dorf zu bringen.

Einige Kilometer entfernt führt eine Straße zu einem anderen Dorf. Plötzlich erscheint einer der Kämpfer der UCK auf der Bildfläche. Reden will er nicht. Er sagt lediglich, daß er und seine Freunde bereit seien, ihr Dorf gegen jeden Angriff zu verteidigen. Es sind sogar ein paar Schützengräben zu sehen. Es handelt sich hier um eines der „befreiten“ Dörfer, von denen es nun einige gibt, wie jenes von Jablanica, das 20 km entfernt gelegen ist. Von dort aus schießen Untergrundkämpfer sporadisch auf eine serbische Kontrollstelle an der Straße nach Djakovica.

Es sind Amateure, die sich bereit gemacht haben, gegen Profis anzutreten. Auf einer Strecke von 100 Kilometern, von Pec bis Przren, ist in den letzten Tagen auf den Hügeln ein Netzwerk von Positionen der jugoslawischen Armee entstanden, von denen aus das gesamte Gelände lückenlos kontrolliert werden kann. „Wenn sie wollen, brauchen sie nur zwei Minuten, um die Albaner in ihren Stellungen zu vernichten“, sagt ein serbischer Journalist, der selbst Offizier in der Armee gewesen ist.

Folgendes Szenario macht vielen Angst: daß die jugoslawische Armee mit Artillerie auf die Stellungen der Albaner schießen könnte und Bodentruppen kommen werden. Gebe es immer noch Widerstand, würden das Dorf zerstört und alle anwesenden Männer als Mitglieder der Untergrundarmee „behandelt“.

Nach wie vor bezweifeln führende Mitglieder der „Demokratischen Liga Kosovas“ die Existenz der kosovo-albanischen Untergrundarmee UCK. Die Leute in den Schützengräben seien lediglich solche, die mit unzureichenden Mitteln ihr Dorf verteidigen wollten. Der Mythos UCK aber sei – teilweise unter tätiger Mithilfe der ausländischen Presse – kreiert worden, um eine großangelegte Militäraktion der Serben zu rechtfertigen und ethnische Säuberungen großen Stils durchzuführen.

Schon seit den ersten Morden an „albanischen Kolloborateuren“ vor zwei Jahren war der Verdacht geäußert worden, bei der UCK handele es sich um eine Kreation der Serben. Bisher hat sich die Führung der Untergrundarmee öffentlich nicht erklärt, um diese Anschuldigung zu widerlegen. Die politischen Ziele bleiben im dunkeln. Andererseits gibt es Hinweise, daß einige Gruppen in ländlichen Gebieten schon vor Monaten eine Untergrundarmee aufbauen wollten. Sicher ist, daß es Dorfbewohner in den von der Repression besonders stark betroffenen Gebieten gibt, die sich in Albanien Waffen beschaffen wollen. Wie jene Männer, die am Montag in Hereq begraben worden sind. Beides, der Mythos und die Realität, könnten für Belgrad Vorwand genug sein, um in den nächsten Tagen „durchzugreifen“. Wenn nicht die internationale Gemeinschaft noch eine Lösung findet.