Keine Anna Frank

■ „Ihr Lieben, viel zu weit Entfernten“ will mehr sein als nur eine szenische Lesung

Louise Jacobsen ist 17, als sie am 31. August 1942 in ihrer Pariser Wohnung verhaftet wird. Die letzten Stationen ihres Lebens – vom Jugendgefängnis Fresnes über das Sammellager Drancy bis zur Deportation nach Auschwitz – hielt die französische Jüdin in Briefen an ihre „Lieben, viel zu weit Entfernten“ fest. Diese Briefe machte Odette Bereska, Chefdramaturgin am carrousel Theater, zum Gegenstand ihrer ersten Regiearbeit.

Ein schwarzer Raum, ein einsamer Stuhl und lose herumstehende Eisenstäbe markieren das Trostlose der Lage. Doch weit hinten auf der Bühnenrückwand schimmert ein helles Quadrat: Wahrzeichen der Hoffnung, die in den Briefen der Todgeweihten breiten Raum einnimmt. Dieses Mädchen ist keine „französische Anne Frank“. Aus den Texten, die Grit Riemer betont unbeteiligt und mit tastender Diktion verliest, spricht vor allem tapfere Naivität. Louise steht in ihrer Situation wie eine Fremde: Für Vater und Schwester gibt sie sich „munter wie ein kleines Vögelchen“, genießt den „herrlichen Rundblick“ aus dem Speisesaal und sorgt sich, daß ihr für die Entlassung geeignetes Schuhwerk fehlt. Nur die Briefe an ihre Freundinnen sprechen von ihrer Angst und den gräßlichen Details, die ihren monotonen Tagesablaufs strukturieren.

Um diesen Zwiespalt deutlich zu machen, hat die Regisseurin ihre Figur aufgesplittet: Der statuarischen Vorleserin hat sie die Tänzerin Elisabeth Kahn zur Seite gestellt, deren Bewegungen den pausenlos abschnurrenden Text mal bebildern und mal kommentieren. So verspricht Bereska die Aufführung über den Status einer szenischen Lesung hinauszubringen, den Monolog als Zwiegespräch zu versinnlichen.

Doch wenn sich die Blicke und Wege der beiden Frauen flüchtig kreuzen oder sie ein Stück Text gemeinsam oder parallel lesen, hat das etwas Willkürliches. Und die sparsam gesetzten Zeichen für den inneren Aufruhr Louises – hier ein plötzliches Zusammensacken, dort eine autistische Umarmung und am Ende ein verzweifeltes Gegen- Wände-Rennen – muten ebenso gewichtig wie beiläufig an. So ist es am Ende vor allem Louise selbst, die das jugendliche Publikum mit betretenem Schweigen zurückläßt. Am Tag ihrer Deportation schreibt sie an ihren Vater: „Ich bin mit Freunden zusammen. Kopf hoch und bis bald.“ Es ist der 13. Februar 1943. Am Tag darauf stirbt Louise Jacobson in den Gaskammern von Auschwitz. Sabine Leucht

„Ihr Lieben, viel zu weit Entfernten“. Heute, 10.30 Uhr, carrousel Theater an der Parkaue 29, Lichtenberg