Aber die Erlösung überlebt

■ „Die Legende vom armen Heinrich“von Tankred Dorst und Ursula Ehler im Concordia

Grandioses Stück. In Kresniks „Fidelio“war es noch Job des Regisseurs, das verlogen-gloriose Menschenbild der Vorlage zu hinterfragen. Bei der Legende vom armen Heinrich erledigt das der Autor gleich selbst.

Gut sein! Aus Mitleid! Sein unschuldiges Leben opfern für einen verlebten, von Aussatz gezeichneten Ex-Lebemann: Nach „Merlin“und „Parsifal“diskutierte und dekonstruierte Tankred Dorst 1996 zum dritten Mal Verhaltensideale aus einer Zeit, da man die Erde noch für eine Scheibe hielt. Und Regisseur Siegfried Bühr zeigte – im wortwörtlichen Sinn – jetzt im Concordia, wie Dorst dieses schöne, klare Rund der geographischen und ideellen Horizonte ins Kippeln und Schlingern bringt.

Schon Hartmann von der Aue unterzog, etwa 800 Jahre früher, das Ideal von der Heiligkeit des Märtyrers einer inquisitorischen Kritik. Sein Prüfstein war die Religion. Das Urteil: Radikale Selbstaufopferung ist eine Form von gar nicht so heiligem Größenwahn. Tankred Dorst dagegen klopft die Geschichte vom Bauernmädchen Elsa, das für den todkranken Heinrich sterben will, auf ihren psychologischen Realismus hin ab. Knackpunkt ist die Zeit. Was passiert in den endlos sich dehnenden Monaten zwischen Elsas Erleuchtung zum Tod und dem tatsächlichen Tod zwischen Retterin und zu Rettendem? Zeit gebiert Verdacht, Sympathie, Niedertracht, Zweifel: Ist dieser Heinrich nicht ein arges Ekel, wenn er auf ihre Kosten weiterlebt? Lohnt es sich für so einen zu sterben? Eigentlich liebt man nur deshalb altruistisch, um selbst möglichst glücklich zu werden. Dorst schickt seine beiden Antihelden nach Süditalien. Dabei werden aus zwei edlen Weltverneinern zwei weniger edle Lebensgierige. Schließlich sieht sie Meer, Blumen, Weintrauben zum ersten Mal – und er vielleicht zum letzten.

Nach weiter Entfernung von der mittelalterlichen Vorlage mündet das Stück am Ende wieder in diese ein. Die altruistische Seite der Liebe setzt sich durch. Elsa will auf einmal doch sterben, Heinrich das Opfer aber nicht annehmen – und schwups, darf das Wunder der Heilung geschehen. So hat sich das Dorst ausgedacht, zusammen mit seiner Geliebten Ursula Ehlers in produktiver Zwietracht. Die beiden müssen sich so richtig mögen. Psychologisch zwingend wirkt diese humanistische Schlußwendung nach den vielen postmodernen Identitätsspielereien und Partyplaudereien allerdings nicht. Egal, natürlich ist diese Schwäche eine besondere Stärken des Stücks.

Nach Hinterfragung aller großen Gefühle darf also das größte Gefühl Liebe triumphieren. Das ist lupenreines Hollywood. Das ist aber auch Kleists Marionettentheater, in dem das verlorene Paradies über den Hintereingang von Reflexion und viel Kuddelmuddel doch noch erreicht werden kann.

Am uralten Stoff diskutieren Dorst-Ehler also Fragen der Klassik und des Zeitgeists. Es dreht sich fast alles um die Authentizität: Stellt sich Elsa nur heilig um der Stumpfheit ihrer Familie zu entkommen, oder ist sie es „wirklich“?

Vielleicht entscheidet sich Bühr zu schnell für die Demontage der Legende. Warum krümmt sich Gabriela Maria Schmeides Elsa vor den Eltern? Wer mit dem Leben abgeschlossen hat, ist doch stark und unangreifbar. Warum ist Dirk Plönissens Heinrich schon vom ersten Moment an ein Macho-Ekel? Vorschnell hält Zynismus Einzug: „Willst Du, daß ich dir dankbar bin?“Diese Frage Heinrichs könnte auch ganz einfach ganz furchtbar ernst gemeint sein. Auch ist vielleicht die überstrapazierte Metapher der schiefen Spielebene und wechselnden Oben-Unten-Stellungen nicht optimal für diese Entwicklungsgeschichte? Vielleicht hätte man die allmähliche Entstehung der Welt mit ihren Farben und Gerüchen in den Köpfen der Helden ruhig zeigen können. Nichts gegen die Musiker: Aber eine Gorecki- oder Meredith Monk-Einspielung wäre vielleicht billiger und passender für die fremdartige Sagenwelt als der live eingespielte cool-urbane Freejazz. Störend war diese Regie immerhin nicht. Die Mutationen des Chores durch lustig-wechselnde Hutmoden, die Denunziation von heiligem Glockenklang durch billige Triangeln und natürlich die Schauspieler erweckten das geniale Stück.

Barbara Kern

Weitere Aufführungen: 6., 7., 9., 10., 13., 15. Mai, 20 Uhr