Schottland von unten

■ In den Highlands sind hochprozentige Steigungen keine Seltenheit - für Liegeradler kein Problem. Schottland bedeutet aber auch Nieselregen (ab und zu) und Pubbesuch (häufiger)

„And what about the mountains, are you able to climb the hills with this bike?“ fragt der schottische Radler im sportiven Rennzwirn, angelehnt an seine klassische, britische Rennmaschine. Neil, wie der 54jährige heißt, läßt seinen kritischen Blick über mein Aeroproject-Liegerad schweifen. Das kleine 20-Zoll-Vorderrad, der GFK-Schalensitz und die lange Kette stimmen ihn stutzig, bei Pedale und Schaltwerk hebt er anerkennend die Augenbraue. Insgesamt aber bleibt ihm das Rad suspekt. Kopfschüttelnd fällt der Rennradler mit kleinem Wohlstandsbauch sein Urteil: „Auf so einem Ding sind die knackigen Steigungen der Hebriden nicht zu meistern!“

Jaulend zertrümmert das Horn der Fähre die morgendliche Ruhe der kleinen nordwestschottischen Hafenstadt. Die Fähre von der Isle of Mull setzt am Steg an. Oban erwacht für eine Viertelstunde zum Leben. Neil hat zwei weitere Renner mit puristischem Tourengepäck im Schlepptau, die mit mir auf die Fähre rollen. „Trio Ignorante“ taufe ich sie mürrisch ob ihres Unverständnisses für mein Traumtouren-Bike.

Wer mit dem Liegerad auf Reisen geht, der muß sich an zwei Dinge gewöhnen: Erstens ist das Liegerad offensichtlich ein sehr lustiges Ding, jedenfalls sind Passanten stets zu Scherzen aufgelegt. Diese Verzückung ist generationsübergreifend, konfessionsfrei und kennt keine politischen Grenzen. Was anfangs als netter Aspekt des Liegeradfahrens scheint, wird jedoch schnell zur Plage. Immer steht das Liegerad samt Piloten im Mittelpunkt, ruhiges Genießen der Szenerie ist nur schwer möglich.

Außerdem gibt es noch einen zweiten Menschenschlag, ihm ist Andersartigkeit in jeder Art zuwider. Durch meinen Lieger werden sich diese Einfaltspinsel ihrer Scheuklappen bewußt. Also sind neunmalkluge Bemerkungen zu hören wie „Ein Liegerad kommt die Berge nicht hoch“ oder „In der Stadt zu gefährlich“. Nicht selten wird auch abgedrängt und gehupt. In Ballater beanspruchte ein Kombi die Straße für sich und ließ mich in den Graben fahren.

Sein Damaskus erlebt Neil in der anschließenden Woche. Nicht nur, daß mein Rad augenscheinlich jeden Gipfel der Insel erstürmen kann. Nein, ich tue es dem quirligen Schotten sogar im Tempo gleich. Die beiden Partner, John und Derek, sind völlig andere Naturen. Beide ebenfalls um die 50 Jahre alt und Lehrer, interessieren sie sich brennend für mein Gefährt. Ihre Euphorie springt schließlich auf Neil über. Als Vierer-Mannschaft fahren wir Tobermory entgegen, kämpfen gegen eine Wand aus Wind an und schlagen uns mit einem Nieselregen rum, der mich insgesamt fünf Tage meiner vierwöchigen Reise begleiten sollte. Aus der gemeinsamen Tagestour wird eine ganze Woche: „Island-Hopping“ taufen wir unsere Tour. Mit Neil, John und Derek erkunde ich die Isle of Mull mit ihrem satten Grün, schlängle mich an der windigen Küste der Isle of Skye entlang und erlebe die triste und rauhe Einsamkeit der äußeren Hebriden (North Uist und Isle of Harris and Lewis).

Daß dieses urwüchsige, wilde Land im Norden Britanniens vor allem liebenswerte Menschen hervorbringt, bekomme ich in allen Lebenslagen zu spüren. Beim allabendlichen Gang in den Pub lautet die Losung: „It's my turn!“ Damit wiegelt John jeden meiner Versuche ab, selbst ein Pint schottischen Ales zu bezahlen. Doch schon am ersten Abend wird meine Höflichkeit, mich einladen zu lassen, vom schlechten Gewissen, ein Schmarotzer zu sein, abgelöst. Ich ringe mich durch und frage John nach seinem Beweggrund und hänge in gebrochenem Englisch eine Entschuldigung dran. Seine Augen leuchten auf. „Vor 25 Jahren war ich als Student in Deutschland. Trampen.“ Im routinierten Lehrer erwacht der kleine Junge. Er spricht schneller, immer wieder unterbrochen von einem hastigen Schluck Ale und melancholischen Blicken auf die verrauchte Decke des Pubs. „Damals waren alle Deutschen so nett und spendabel gewesen.“ Und heute sei er halt am Zuge: „So leave your wallet in your pocket and enjoy yourself!“

Auf der Isle of Harris and Lewis spielt mein Aeroproject seine Trümpfe aus. Das „Trio infernale“ – ich titelte bereits am ersten Abend um – kämpft gebuckelt auf dem Rennrad gegen einen Sturm an, während ich mich auf meinem Liegerad lässig fläze. Der bequeme, großflächige Sitz sorgt für Komfort, und die gute Aerodynamik „schwächt“ den Wind beträchtlich ab. Ich pfeife das Pipi- Langstrumpf-Lied und schaue aufrecht mit Panoramablick, der dem Liegerad so eigen ist, in die eindrucksvolle kahle Steinwüste zwischen den Inselteilen Harris und Lewis. Indes pfeift das Trio auf dem letzten Loch und stiert aerodynamisch optimiert auf den grauen Asphalt. Regen setzt ein.

„Klimatische Unwägbarkeiten“, wie es der sonst so schweigsame Derek nennt, lassen den Abend im Pub schon zur Teatime beginnen. Ich schleiche mich zur Theke, hole vier Pint of Ale, und es heißt in dieser Woche zum einzigen und letzten Mal: „It's my turn!“ Gunnar Fehlau