Wieviel Maß verträgt der Radler?

■ Wer radelt, sündigt nicht. Weit gefehlt. Auch Radfahrer fahren alkoholisiert und gefährden damit sich und andere Verkehrsteilnehmer. Und manchmal müssen sie sogar ihren Führerschein abgeben und anschließen

An irgendeiner Theke irgendwo in Deutschland: „Noch 'n Bier, noch 'n Korn.“ „Kommt sofort. Den Wagen heute in der Garage gelassen?“ „Genau. Heute darf ich mal. Bin mit dem Radl da.“ In einem Punkt irrt sich der Gast: Er darf nämlich nicht.

Jedenfalls nicht Trinken wie ein Loch und dann noch aufs Rad steigen. Dietmar Kettler, Verfasser des Standardwerks „Recht für Radfahrer“, schreibt unmißverständlich: „Wer im Verkehr ein Rad führt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, wird mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bestraft.“ Allerdings sind die meisten Richter beim radfahrenden Trunkenbold großzügig. Wenigstens 1,6 Promille sollte er im Blute haben, damit er zum Rechtsfall wird. Diese auf den ersten Blick hohe Hürde nehmen viele indes ohne weiteres.

Der Fall J. F. [voller Name der Redaktion bekannt]: auf dem Heimweg, nachts um halb eins. Nichts Böses (oder gar nichts mehr) ahnend radelt er, von einer Feier kommend, nach Hause, als sich ihm zwei Uniformierte in den Weg stellen. Zunächst bemängeln sie die defekte Beleuchtung am Zweirad, bemerken aber alsbald, daß J. F. reichlich dem Weine, Bier oder ähnlichem zugesprochen hat. Was der Mann ohne weiteres zugibt. Nur auf die Wache mitkommen, das will er nicht. Was die Beamten als Renitenz werten. Er wird mit Zwang abgeführt, „und dann haben sie mir die Hände auf dem Rücken gefesselt und auf diese Art Blut abgenommen“. Beachtliche 2,11 Promille! J. F. – und alle, die ihm auf seiner Heimfahrt begegneten – hatte Glück im Unglück: Er besitzt keinen Führerschein.

Den Lappen kann auch derjenige verlieren, der nicht betrunken hinterm Steuer, sondern am Lenker erwischt wird. Allerdings nicht sofort. Droht dem Kraftfahrer der unmittelbare Verlust der Fahrerlaubnis (immer noch ab 0,8 Promille), so darf der Fahrradfahrer sie erst einmal behalten. Dann aber schreitet die Verwaltungsbehörde ein und entzieht sie ihm. Damit nicht genug, schließlich winken dem per Velo erwischten Alkoholsünder auch noch sieben Punkte in der Flensburger Verkehrssünderkartei. „Denn ein Kraftfahrer kann sich auch dadurch als ungeeignet zum Führen eines Kraftfahrzeuges erweisen, daß er in stark alkoholisiertem Zustand mit dem Fahrad am Straßenverkehr teilnimmt“, erklärt Dieter Kettler.

Wer den Führerschein erst einmal abgeben mußte, erhält ihn bekanntermaßen nicht so leicht zurück. Er muß zur Medizinisch-Psychologischen Untersuchung (MPU), vom Volksmund gern als „Idiotentest“ bezeichnet. Auch Alkoholsünder, die die Führerscheinprüfung erst ablegen wollen, müssen diesen Weg gehen.

Michael Tillmann, Verkehrspsychologe beim Medizinisch-Psychologischen Institut (MPI) TÜV Nord, ist an diesen Untersuchungen beteiligt. Er schätzt, daß es jährlich an die 200.000 solcher Explorationen in Deutschland gibt. Der hochnotpeinlichen, etwa vier Stunden dauernden Prozedur müssen sich auch immer mehr Radler unterziehen. Die MPU umfaßt einen kompletten Gesundheitscheck. Am Anfang steht der Fragebogen, danach folgt die dreißigminütige ärztliche Untersuchung, die solch Ungemach wie den Einbein-Stand, den Sehtest, eine Blutprobe oder Fragen zur körperlichen Anamnese beinhaltet. Im Anschluß daran tritt der Verkehrspsychologe auf den Plan. „Bis etwa Anfang der 80er Jahre lag die Hauptbeweislast noch beim medizinischen Check, der sich aber als zu unsicher erwies“, erklärt Tillmann. „Bei zirka 20 Prozent der Alkoholsünder kann bei der ärztlichen Untersuchung keine Veränderung der Leberwerte festgestellt werden.“

Inzwischen haben die Psychologen den Part der Mediziner bei der MPU übernommen. Der Verkehrspsychologe: „Der Delinquent muß beweisen, daß er den Führerschein zu Recht bekommen hat. Kann er das nicht, bekommt er ihn nicht wieder beziehungsweise hat Schwierigkeiten, die Führerscheinprüfung abzulegen.“ Auch der Ersttäter müsse darlegen, wie er es vermeidet, wieder auffällig zu werden. „Das Kontrollbedürfnis des Staates ist gestiegen“, vermutet Tillmann, „Ziel ist es, den harten Kern der Verkehrsrowdys und die über zwei Millionen fahrenden, unbelehrbaren Gewohnheitstrinker unschädlich zu machen.“ Jährlich sterben, so Tillmann, etwa 5.000 Menschen bei Unfällen, die durch Alkohol- oder Drogenkonsum verursacht werden. Zum Glaubensbekenntnis der Staatsorgane gehöre aber, daß ein Alkoholiker, der heute besoffen aufs relativ harmlose Rad steigt, morgen es im gleichen Zustand mit einem Lkw versuche.

Was vollkommen unverständlich sei, meint der Zecher an irgendeiner Theke irgendwo in Deutschland. „Wenn ich besoffen bin, fahre ich allerhöchstens Fahrrad. Ich bin doch nicht verrückt.“ Doris Friedrichs