Auf dem Boden der Tatsachen: Eine neue Stimme in Kroatien

Beim Jutarnji list, dem „Morgenblatt“, ist alles anders: Keine Partei, keine Gewerkschaft, keine regierungsnahe Stiftung fungiert als Herausgeber, keine staatliche Druckerei ist für die Produktion der pro Tag knapp 200.000 Exemplare zuständig, kein staatliches Vertreibernetz übernimmt die Auslieferung an die Kioske. In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist ein Blatt wie Jutarnji list aus Zagreb die Ausnahme.

Was stimmt die Blattmacher des Jutarnji list so zuversichtlich, daß sie seit drei Wochen das Experiment einer unabhängigen Tageszeitung wagen? „Die Bürger haben es satt, auf allen Kanälen immer und immer wieder die Lobhudeleien auf die ach so kluge Regierung und das weise Staatsoberhaupt Franjo Tudjman hören zu müssen“, erklärt Chefredakteur Tomislav Wruss, „die Leute wollen sachlich und gut recherchierte Informationen, nur das wollen sie.“

Etwas verträumt sehnt sich der erst 37jährige Blattmacher zu Beginn der Jahrhundertwende zurück, als in der damaligen k.u.k. Provinzstadt Zagreb schon einmal eine Jutarnji list die politische Stimme eines aufgeklärten kroatischen Bürgertums verkörperte. Von Lemberg bis Temesvar, auch in Wien und Budapest fand das „Morgenblatt“ seine kroatisch sprechenden Leser.

Heute dagegen ist der Radius sehr bescheiden, nicht einmal in Sarajevo oder Belgrad ist das Blatt zu haben, an deutschen Kiosken mit internationaler Presse fehlt es erst recht.

„Das wird sich alles ändern“, verspricht Wruss, „wir bleiben kein Provinzblatt.“ Bald werde Jutarnji list „die Zeitung Kroatiens“ sein, glaubt er, „denn wir sind die einzigen, die auf die neuen Zeiten vorbereitet sind“.

Von neuen Zeiten ist jedoch in Zagreb noch nichts zu sehen. Provinziell wie die kroatische Politik sind auch die meisten Themen, die Jutarnji list aufgreift. Warum sind die Oppositionsparteien so sehr unter sich zerstritten? Trat Tudjmans Sohn Miroslav wirklich als Chef des kroatischen Geheimdienst ab? Warum stockt die Umsetzung des bosnischen Friedensvertrags?

Eines jedoch haben die Blattmacher, anders als die meisten, redlich unterlassen: Sie setzen keine dubiosen Gerüchte und Sensationsmeldungen in die Welt, um die verkaufte Auflage zu steigern, sondern bleiben auf dem Boden der Tatsachen. Wer Dolchstoßlegenden, Verschwörungsphantasien und Geheimdienstmythen sucht, der darf Jutarnji list nicht aufschlagen, der muß zu den regimetreuen Blättern greifen, in denen die staatlichen Mandatsträger ihrer Version vom „Verrat des Westens gegenüber Kroatiens Verteidigungskampf gegen die serbische und muslimische Gefahr“ noch immer freien Lauf lassen. Karl Gersuny