„Soviel Aufregung um Fische und Vögel“

Eine Woche nach der Umweltkatastrophe in Südspanien sorgen sich die Menschen um ihre Zukunft. Doch die Minenarbeiter haben ganz andere Sorgen als die Bauern, Fischer und die Tourismusbranche an der Küste  ■ Aus Südspanien Reiner Wandler

„Alles unter Kontrolle. Das Gift ist zum Glück nicht bis hier herunter gekommen“, sagt der Küchenchef des Restaurants Juan Carlos in Sanlúcar de Barrameda. Die Stühle und Tische, die die Kneipiers draußen auf dem Rathausplatz im Schatten der Palmen aufgestellt haben, füllen sich langsam. Überall in den Gäßchen des Ortskerns mit seinen zweistöckigen Häuschen im spanischen Kolonialstil bieten fliegende Händler Schmuck, Lederwaren, T-Shirts an. Es ist der 1. Mai, und der 60.000-Seelen-Ort zieht wie immer an Sonn- und Feiertagen unzählige Ausflügler aus dem nahe gelegenen Sevilla und aus Cádiz an.

Die hervorragenden Meeresfrüchte, die langen Sandstrände, und die Fähre hinüber in den Vogelschutzpark Doñana, der wegen seiner außergewöhnlichen Artenvielfalt 1994 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde, haben Sanlúcar auch weit über Spaniens Grenzen hinaus bekannt gemacht. „Im Hochsommer kommen die Reisebusse voller Deutscher und Engländer“, sagt der Koch. Nein, das Geschäft sieht er auch dieses Jahr nicht gefährdet, nach dem Doñana und die Giftschlammkatastrophe die Schlagzeilen füllten. Um seine Worte zu unterstreichen, zeigt er auf die Körbe mit Fischen, Austern, Langostinos und Gambas. „Alles hier gefangen, wo der Guadalquivir in den Atlantik fließt. So frisch wie immer“, sagt der Koch zufrieden.

Im Hafen von Sancúlar sind viele skeptisch

Er verläßt sich auf die Informationen der Behörden. Ihren Angaben zufolge ist die Verschmutzung zum Stillstand gekommen. Ausgelöst wurde sie durch einen Dammbruch am Abwassersee der Minen von Aznalcóllar, 70 Kilometer weiter im Landesinneren am Guadiamar gelegen, dem größten Seitenfluß des Guadalquivir. Zwar hat Greenpeace noch vor drei Tagen Alarm geschlagen, nachdem zum ersten Mal nur einen Kilometer von der Mündung des Guadiamar in den Guadalquivir entfernt tote Fische gefunden wurden. Doch gehen jetzt selbst die Umweltschützer davon aus, daß sich die Verschmutzung tatsächlich stabilisiert haben könnte und sich dank Ebbe und Flut nicht weiter ausbreitet.

Im Hafen von Sanlúcar wollen trotz Entwarnung viele dem Frieden nicht so recht trauen. Fischer und Hafenarbeiter sind ungeachtet des Feiertages hier zusammengekommen. Sie schauen besorgt auf den Fluß hinaus. Unter ihnen Antonio und seine drei Kumpels, Rafael, José Manuel und Alberto. „60 bis 70 Prozent der Einwohner von Sanlúcar leben direkt oder indirekt vom Fischfang“, gibt Antonio zu bedenken. Er arbeitet als Handlanger im Hafen. Wenn die Boote nichts mehr fingen, wäre auch er seinen Job los. Der 20jährige Rafael ist für die Wartung eines Bootes zuständig, José Manuel, zwei Jahre jünger, fährt seit zwei Jahren zur See, ebenso wie der 14jährige Alberto.

100 Boote fahren zweimal die Woche hinaus, an die Küste vor der Flußmündung. Was sie nach drei Tagen und Nächten mitbringen, wird verkauft. Die Hälfte des Erlöses geht an den Schiffseigentümer, den Rest teilt sich die sechs- bis siebenköpfige Besatzung auf. „Rund 80.000 Peseten verdienen wir im Monat“, sagt José Manuel — umgerechnet 1.000 Mark.

Auf die Pläne der schwedischen Minenbetreiber Boliden Apirsa befragt, einen neuen Stausee für Abwässer anzulegen, und dann weiterzumachen, als wäre nichts geschehen, antwortet Antonio: „Das darf nicht sein. Das gehört nicht dahin.“ Seine Freunde nicken zustimmend.

Oben in Aznalcóllar, dem Dorf neben der Unglücksmine, sehen die Menschen das ganz anders: „Warum soviel Aufregung um ein paar tote Fische und Vögel? Es muß hier weitergehen. Wenn nicht, stirbt ein ganzes Dorf an Hunger“, sagt ein Mann um die vierzig mit fast schon wütendem Unterton. Die Umstehenden pflichten ihm bei. Alle reden durcheinander. Und dennoch ist niemand bereit, unter Nennung seines Namens Rede und Antwort zu stehen.

Über 1.000 Menschen beschäftigt die Mine, wo aus dem abgebauten Pyrit — Schwefelkies — Kupfer, Blei, Zink und Silber gewonnen wird. 523 Arbeiter sind direkt bei der Betreiberfirma Boliden Apirsa angestellt, der Rest bei Fremdfirmen und Zulieferern. „Bei 6.000 Einwohner hängen somit praktisch alle Familien von der Mine ab“, gibt der Mann zu bedenken.

Aznalcóllar macht einen gepflegten Eindruck. Die Dorfstraßen sind von Blumenbeeten und Bäumen gesäumt, alle Häuser frisch gestrichen, am Dorfrand entsteht eine Neubausiedlung. Die Mine bietet Ein- und Auskommen. „Wer von diesen Umweltschützern kümmert sich um uns, die Familienväter?“ fragt der Kumpel aufgebracht. Er arbeitet seit 16 Jahren in den Minen von Aznalcóllar. Er kam damals, wie viele seiner Kollegen, eigens aus der Nachbarprovinz Huelva hier herauf. Dort haben die meisten Minen zu gemacht, so auch die Maria Luisa, wo er arbeitete.

Heute ist er Schichtarbeiter in der Weiterverarbeitung, dort, wo dem Gestein mit Säuren die Metalle entrissen werden. Seit dem Unfall steht die Produktion still. „Gestern war Zahltag, aber was ab morgen passiert, das weiß keiner“, sagt er. Er hofft, wie seine Kollegen auch, daß der schwedische Betriebsleiter, Andres Bülow, Wort hält und die Mine offen bleibt. Wann immer er auch vor die Presse tritt, das Dorffernsehen ist live dabei, die Kneipen gefüllt. Sie hängen dem Übersetzer an den Lippen.

„Warum sagt keiner, daß es sich um eine Naturkatastrophe gehandelt hat? Die Erde weit unter dem Damm kam ins Rutschen. Dafür kann man doch nicht die Mine verantwortlich machen“, wiederholt auch die Inhaberin des einzigen Zeitschriftenladens am Ort die Erklärungen „des Mannes mit dem unausprechlichen nordischen Namen“. Seit dem Unglück verkauft sie „bedauerlicherweise“ dreimal so viele Zeitungen wie zuvor. „Die Presse lügt oder bringt die Wahrheit nur scheibchenweise, um sie zu verdrehen“, schimpft die rothaarige Mitdreißigerin auf die Journalisten, die seit Tagen im Ort sind.

Das Dorf neben der Mine ist hart getroffen

„Das war alles andere als ein natürlichen Unfall. Seit Jahren gab es von Umweltschutzgruppen Anzeigen gegen die Mine und den Abwassersee, aber weder Landesregierung noch Madrid haben etwas unternehmen“, sagt Christina Treffler. Die aus Deutschland stammende Frau lebt zusammen mit ihrem Mann auf einem Gehöft wenige Meter außerhalb des Dorfes Aznalcazar, direkt am Ufer des Guadiamar. Dort auf halber Strecke zwischen den Minen und der Mündung in den Guadalquivir züchtet sie andalusische Rassepferde. Ihr Mann baut vor allem Weizen an. „Ich habe meine ganzen Weiden verloren und mein Mann 47 Hektar Land, bei einer Gesamtfläche von 70 Hektar“, sagt sie und zeigt dabei auf ausgedehnte Ländereien entlang des Ufers.

Eine zähe schwarze Masse bedeckt alles. Grashalme und Gestrüpp ragen wie versteinert heraus. Über allem liegt ein undefinierbarer, schwerer Geruch. Die Pferde stehen in einer viel zu kleine Koppel hinter der Scheune. „Ich kann die nicht in den Giftschlamm lassen“, sagt Treffler. Die zwei Brunnen auf dem Gelände können nicht mehr genutzt werden. „Das Trinkwasser bekommen wir im Tanklaster“, beschreibt sie die Situation. Die Verluste ihres Mannes schätzt sie auf mindestens 55tausend Mark, nur für dieses Jahr. Ob die vier Landarbeiter entlassen werden, wollen die beiden in den nächsten Tagen entscheiden.

Den Nachbarn geht es nicht besser. Ein Ziegenhirte auf der anderen Flußseite muß seine 400köpfige Herde mit Preßfutter ernähren. Wie lange er das finanziell durchhalten kann, weiß er nicht. Die Obstplantagen ein paar Meter weiter flußab wurden ebenfalls überschwemmt. Das Gift dürfte sich langsam in den Orangen und Pfirsichen anreichern, die an den Zweigen hängen. Auf der Gemarkung von Aznalcazar wurden insgesamt 3.000 Hektar überschwemmt. Das Dorf ist damit das am meisten geschädigte. „Mehr Bewußtsein, weniger Interessen“ steht flußabwärts im Hafen von Sanlúcar auf einem Transparent zu lesen. „Ich glaube ja nicht, daß das schon alles ausgestanden ist“, sagt Alberto, der 14jährige Benjamin der Gruppe von vier Freunden. Er überlegt kurz, bevor er dann hinzufügt: „Heute habe ich ein Stück weiter am Strand tote Fische gesehen.“

Aus ein paar Metern Entfernung beobachten einige gutgekleidete Männer die Szene. Plötzlich kommt einer herüber. Er spielt nervös mit dem Schlüssel seines am Hafeneingang abgestellten Geländewagens. „Was erzählst du für einen Blödsinn“, motzt er Alberto an. „Wie lange lebst du schon hier? Hast du noch nie tote Fische gesehen? Das ist völlig normal.“ Alberto zuckt zusammen, aber entgegnet dennoch: „Heute morgen das waren mehr als sonst.“ Der Blick des Mannes verfinstert sich: „Jetzt reicht es aber. Nachher kommt dein Geschwätz selbst in Peking in den Zeitungen. Man muß schon aufpassen, was man zu wem sagt. Sonst kommen keine Touristen mehr, und niemand kauft, was wir fangen.“ Alberto und die Jungs wenden sich schweigend vom Journalisten ab. Bevor der Mann zurück zu seiner Gruppe geht, beteuert er noch einmal: „Hier ist nichts passiert, rein gar nichts.“