Wie Gefangene und ihre Wärter

Der neue russische Ministerpräsident Kirijenko will dafür sorgen, daß endlich die Löhne gezahlt werden. Doch viel spricht dagegen, daß er es schafft  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Während in Moskau Sergej Kirijenko von der Duma in seinem Amt als russischer Premier vor eineinhalb Wochen endlich bestätigt wurde, befanden sich in dem Bergwerksstädtchen Partisansk im russischen Fernen Osten vierzig Kumpel im Hungerstreik. Sie hatten seit neun Monaten kein Gehalt mehr zu Gesicht bekommen. Den Generaldirektor ihrer Grubenverwaltung, Valeri Frontschenko, sperrten sie in seinem Büro als Geisel ein und setzten ihn auf „Diät“.

Der frischgebackene Ministerpräsident veranlaßte die unverzügliche Überweisung des fehlenden Geldes nach Partisansk. Gleichzeitig versprach er auf einem Bergleutekongreß in Moskau, dem Kohlesektor in diesem Jahr über neun Milliarden Rubel (2,7 Milliarden Mark) zuzuteilen statt der im Staatshaushalt vorgesehenen sechs Milliarden. Jelzins Musterknabe will nun beweisen, daß er die Lohnzahlungskrise besser lösen kann als Viktor Tschernomyrdin. Das Geld dafür wird für ihn allerdings noch schwerer zu beschaffen sein als für seinen Vorgänger.

Noch ist die neue russische Regierung nicht gebildet, da hat ihr der Internationale Währungsfonds schon eine Ohrfeige verpaßt. Er zögert, Rußland die nächste Kredittranche in Höhe von 700 Millionen US-Dollar auszuzahlen, die als Teil eines Zehnmilliardendollarkredits dieser Tage fällig wäre. Die russische Regierung hat in den ersten drei Monaten dieses Jahres bei weitem nicht das ihren Planvorgaben gegenüber dem IWF entsprechende Einkommen erzielt – allerdings fast ohne eigene Schuld.

Als Folge der asiatischen Finanzkrise werden zum Beispiel allein die fälligen Zinsen für In- und Auslandsschulden dieses Jahr auf 30 Prozent des Staatshaushaltes hochschnellen – von 24 Prozent im letzten Jahr. Einen weiteren schweren Schlag für Rußland bedeutet der weltweite Sturz der Erdölpreise. Rohöl und Erdgas gelten als Blut und Atem der russischen Wirtschaft. Die Einnahmen aus ihrem Export werden in diesem Jahr um sieben Milliarden Dollar unter den Erwartungen bleiben. Dies bedeutet 3,3 Milliarden US-Dollar Verlust für den ohnehin mageren russischen Staatshaushalt von 82,5 Miliarden Dollar.

Nach dem Motto: Getrennt marschieren und vereint schlagen haben der IWF und Kirijenko schon verschiedene Lösungsversuche zur Hand. Kirijenko hat ein Mehrpunkteprogramm vorgelegt, um noch mehr Steuergelder und Zölle aus den großen Unternehmen des Landes herauszupressen. Stilistische Eigenheiten lassen darauf schließen, daß auch dieses Dokument in der Moskauer IWF- Vertretung ausgebrütet wurde.

Wenn er sich aber damit begnügt, nur die Daumenschrauben weiter anzuziehen, wird Kirijenko die Lage auf dem Lohnsektor keinesfalls verbessern. Daß viele russische Unternehmen keine Löhne zahlen, hat nämlich strukturelle Gründe. Aus der Sowjetzeit haben sie eine immer noch schwerfällige Monopolstruktur und ein halbkriminelles Vertriebssystem geerbt. Die ohnehin auf dem Weltmarkt nicht sehr konkurrenzfähige russische Kohle wird beispielsweise dadurch künstlich verteuert, daß an ein und derselben Ware bis zu sechs Zwischenhandelsorganisationen verdienen. Unsinnige Auflagen und Tarife machen das ehrliche Wirtschaften fast unmöglich.

Mehr als die Hälfte der Russen, die seit Monaten keinen Lohn behalten, arbeiten im privaten Sektor. Der Grund: Ein Unternehmen, das viele Arbeitsplätze bietet, bekommt einen Nachlaß der erdrückenden Steuern, weshalb viele Manager überflüssige Arbeitskräfte lieber nicht bezahlen, als sie zu entlassen. Wenn sie einen Arbeiter oder Angestellten von sich aus entließen, müßten sie ihm zudem noch drei Monate Lohn nachzahlen. Wer andererseits von sich aus kündigt, verliert den Anspruch auf alle vom Unternehmen noch nicht ausgezahlten Gehälter.

Vor allem in Städtchen wie Partisansk, die ganz von einem einzigen Unternehmen abhängen, leben Arbeiter und Manager deshalb miteinander, wie durch Handschellen aneinandergekettete Gefangene und Wärter. Es eint sie das gemeinsame Interesse, aus dem Staat mehr für ihr Gefängnis herauszuschlagen.

Zahlreiche Organisationen, wie zum Beispiel die Kommunistische Partei und die fußlahmen Gewerkschaften beziehen ihre Daseinsberechtigung heute ausschließlich aus der Armut der Arbeiter. Sie haben deshalb kaum ein Interesse, daß sich daran etwas ändert. Die russische Presse ist sich einig: Auch Sergej Kirijenko wird nicht darum herumkommen, dem Westen gegenüber weiter die Hand aufzuhalten.

Die Bergleute von Partisansk haben ihr Geld noch immer nicht in der Hand. Sie hungern weiter – und mit ihnen, inzwischen freiwillig, Generaldirektor Frontschenko. Er hat sich dem Streik angeschlossen und ist damit vorübergehend vom Boß zum Genossen mutiert.