Unsere Fassade muß sauber bleiben

■ Welches Image hat der Euro in Europa? Über die Währungsunion redet im Pariser Osten niemand – außer einem Nachbarn, der sich durch Europabegeisterung höchst suspekt macht

Die blaue Fahne mit den zwölf goldenen Sternen tauchte am ersten sonnigen Sonntag dieses Jahres auf. Ein Nachbar in der vierten Etage hatte eine dicke Eisenstange auf seinem Balkon installiert und ließ das große Tuch vor unserer glatten, pastellgelben Hausfassade im Pariser Osten flattern.

Madame G., die auf demselben Treppenabsatz wohnt wie ich und eine gute Beobachterin ist, informierte mich auf dem Wochenmarkt. Wir suchten Kopfsalate aus, als sie milde lächelnd über den Nachbarn mit der Fahne bemerkte: „Monsieur C. hat offenbar persönliche Probleme. Vielleicht ist er arbeitslos.“

Es war Anfang März. Tags drauf fand ich in meinem Briefkasten das Flugblatt einer Europavereinigung, die unsere Adresse als ihren Hauptsitz angab. Auf einer knappen Seite erklärte sie die Ursprünge der Europäischen Union bei Karl dem Großen, lud zu einem Karnevalsfest in unserem Quartier ein und schlug mehrere erstaunlich billige Reisen nach Sankt Petersburg, Lübeck und Rom vor. Alle Preisangaben waren in Euro.

Damit begann eine Serie. Bereits in der ersten Woche erhielt ich drei weitere Europaflugblätter, die mich unter anderem zu einer Bootsfahrt mit Jacques Delors aufforderten und vor der bevorstehenden gefährlichen Allianz von Rußland und den USA warnten, gegen die nur der Euro helfe.

Madame P. aus dem sechsten Stock hatte dieselben Flugblätter erhalten. Doch als sie mich im Aufzug ansprach, sagte sie nur: „Wenn jetzt der 14. Juli wäre und zusätzlich eine Trikolore da hinge, ginge das ja noch.“ Aber wir waren noch weit vom Nationalfeiertag entfernt, und Madame P. ging es vor allem um unsere „saubere Fassade“.

Da ich Madame P. nicht besonders mag, überlegte ich anschließend, welche Farbe ich hissen müßte, um sie zu ärgern. Ich vermutete Rot. Aber vor einer derartigen Eskalation an unserer Fassade wollte ich zumindest einen friedlichen Versuch bei Monsieur C. machen, der mir vor der Fahnenaffäre nur dadurch aufgefallen war, daß er beim „Bonjour“ auf seine Schuhspitzen schaute und schnell weiterhuschte. „Ich bin überzeugte Europäerin, aber ich hätte lieber gar nichts Politisches an der Fassade“, wollte ich ihm sagen. Die kleine Runde NachbarInnen, die im Hauseingang über Monsieur C. lästerten, riet mir ab. „Wer so etwas heraushängt, ist gefährlich“, warnte einer. „Das ist ein Royalist“, raunte ein anderer. „Gehen Sie auf keinen Fall in seine Wohnung“, meinte eine besorgte Dame, „legen Sie besser einen anonymen Brief in den Briefkasten.“ Ihr Gatte schlug vor: „Wir sollten die Polizei informieren.“

Über Europa sprach wieder niemand. Dabei standen wir bereits wenige Tage vor dem entscheidenden Euro-Gipfel der Regierungschefs, und unser Nachbar bombardierte uns nunmehr täglich mit Flugblättern und hißte bei schönem Wetter grundsätzlich seine Euro-Fahne. Während die Runde sich ausmalte, daß Monsieur C. bei einer Anzeige mit mehreren zigtausend Centimes Strafe rechnen müsse – wohlgemerkt in den alten, vor drei Jahrzehnten abgewerteten Centimes –, überlegte ich meine Gegenoffensive.

Sämtliche Anti-Euro-Flugblätter, die ich seither in den Briefkasten von Monsieur C. lege, kommen einen Tag später wieder bei mir an. Korrigiert und kommentiert. Wo eine linke Gruppe schreibt: „Nein zum Euro“, ersetzt Monsieur C.: „Nein zum Dollar.“ Wo die Brüsseler Bürokratie kritisiert wird, schreibt er am Seitenrand gegen die „korrupten Kleinstaaten“ an.

Das vorerst letzte ×uvre meines europäischen Nachbarn lag heute morgen in unseren Briefkästen. Unter der fettgedruckten Überschrift „Perspektiven“ kündigt er jetzt eine „massive populäre Beteiligung an der dem Euro folgenden europäischen Verfassungsdebatte“ an. „Der Ärmste“, seufzte Madame G., mit der ich gemeinsam aufs Trottoir ging und hoch zu der blauen Fahne mit den gelben Sternen schaute. Dorothea Hahn