Der falsche Mann

■ Bereits in seinen frühen Filmen läßt Alfred Hitchcock unbescholtene Bürger büßen

Er muß ja für einiges herhalten. Alfred Hitchcock gilt als „master of suspense“, aber auch als Meister der Anomalien, der uns die tyrannischen Mütter dieser Welt vor Augen führt. Wenn man will, läßt sich das Hitchcocksche Oeuvre aber auch auf eine einfache Formel bringen: Ein unbescholtener Bürger wird in eine Kriminalgeschichte verstrickt, aus der er nur unter Mühen wieder herausfindet.

Beinahe schon paradigmatisch fällt etwa James Stewart als The Man Who Knew Too Much (1955) in Marrakesch ein dahinsiechender Mann in die Arme und vertraut ihm mit den letzten Atemzügen ein Geheimnis an. In der Folge wird der Tourist samt seiner Frau Jo (Doris Day) und der gemeinsamen Tochter in eine Agentengeschichte verwickelt, die es in sich hat und bis in die Royal Albert Hall führt. Daß sich diese Thematik des „falschen Mannes“ – seltener ist es auch eine Frau – aber bereits gut 20 Jahre zuvor abzeichnete, läßt sich nun anhand einer Retrospektive überprüfen, die das Abaton zusammen mit dem ausgewiesenen Hitchcock-Kenner Professor Johann Schmidt ausrichtet.

Schon in der ersten Version von The Man Who Knew Too Much (Foto), die Hitchcock 1934 seinen größten Erfolg in England einbrachte, wird die Geschichte auf die gleiche Weise, wenn auch in der Schweiz, angestoßen. Auch dieser Mann weiß mehr als ihm lieb ist. Ohne überflüssige Schlenker wird der Zuschauer zusammen mit ihm in eine Geschichte gezogen, die auf die berühmte Schlußszene abzielt. Immer wieder bereitet Hitchcock auf einen einzigen Beckenschlag während des Konzerts vor. Denn der Killer soll genau in jenem Augenblick abdrücken, in dem die Partitur der Kantate einen Beckenschlag verlangt. Ein Schrei verhindert Schlimmeres. Hitchcocks Selbsteinschätzung, in jenen Jahren noch ein „talentierter Dilettant“ gewesen zu sein, wird angesichts der Folgerichtigkeit dieser berühmten Sequenz zum bloßen Understatement.

In Blackmail, dem ersten Tonfilm Hitchcocks von 1929, geht es ganz ähnlich zu. Gleich zu Anfang schließen sich die Handschellen um die Gelenke eines Typen, der ahnungslos im Bett liegt. Für die Beamten ein normaler Arbeitstag. Doch eine neue Spur führt sie zu einem Mädchen, das von Anny Ondra – wie könnte es bei Hitchcock anders sein: einer Blondine – gespielt wird.

Auch in Secret Agent, 1936 nach zwei Kurzgeschichten von Somerset Maugham gedreht, muß wieder ein Unschuldiger dran glauben. Ein Geheimagent (John Gielgud) wird in die Schweiz geschickt, um einen Spion auszuschalten, nimmt sich aber einen unbeteiligten Touristen vor. Daß der echte Spion am Ende eher zufällig dran glauben muß, ist ebenso ein Beispiel für Hitchcocks Spiel mit moralischen Kategorien wie die Figur des Schurken selbst. Denn Robert Young gibt ihn nett, chic und gut erzogen.

Diese Figur des verführerischen Bösewichts taucht dann, laut Claude Chabrol und Eric Rohmer, immer wieder bei Hitchcock auf. Aber der muß ja, wie gesagt, für einiges herhalten.

Volker Marquardt

Blackmail: Mo, 11. Mai.
The Man Who Knew Too Much: Mo, 18. Mai.
Secret Agent: Mo, 25. Mai, jeweils 18 Uhr, Abaton. Weiter geht's im Juni