Kranker Blick

■ „Verrückte Welt“: Kinematographie und Psychiatrie diesen Monat im B-Movie Von Birgit Glombitza

Manchmal kommen sie zweimal. Die Erschütterungen und Schocks, nach denen die Welt nicht mehr die alte ist. 1895 war so ein Jahr der doppelten Zumutungen: Der einfahrende Zug der Gebrüder Lumiére (L–arrivée dún train en gare), der das panische Premierenpublikum glattweg zu überfahren schien, und Freuds Entwurf einer Psychologie, der nach Kopernikus und Darwin die dritte Kränkung des abendländischen Zentralnervs, des autonomen Erkenntnisstolzes, bedeuten sollte. Das Ich war nicht länger Herr im eigenen Haus, sondern wurde zur bloßen Bastelei des Imaginären deklassiert. Und so scheint das Kino, diese Illusion aus 24mal Licht und Schatten pro Sekunde, in seiner Geburtsstunde direkt auf die Couch zu plumpsen, zu jener anderen Traumbildmaschine, der Psyche.

Während das Ich die Reise zur Erkenntnissonne aus seinem Fahrplan streichen mußte, brach der Film schon bald zum Mond wie zum Mikrokosmos der Seele auf. Er ribbelte an der Trennung von Innen und Außen, tobte sich in unmöglichen Gleichzeitigkeiten aus und montierte sich Raum und Zeit, wie er es/sie gerade brauchte. Traumata wurden als magische Zwischenreiche bestaunt, Identitätsspaltung als dramatisches Potential ausgebeutet. Kinobilder und Seelenprojektionen – eine Verschwisterung, die das B-Movie jetzt zusammen mit „Betreutes Wohnen St.Pauli“, einem Projekt für und mit psychisch Erkrankten, in der Filmreihe „Verrückte Welt – Psychiatrie im Film“ augenfällig macht.

Das Spiel mit dem Düsteren, der Aura des Psychotischen und Schizoiden zählt seit jeher zum festen Repertoire der Leinwand. Triebtäter, Somnambule, Klaustrophobiker, Gedächtnislose oder wenigstens Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Als menschliche Monster oder als Schauobjekte popularwissenschaftlicher Filmstudien wurden sie zur Besichtigung freigegeben. Was bei G.W. Pabsts Geheimnisse einer Seele (1926) noch zum Zwitter aus Spiel- und Lehrfilm geriet, bei Robert Wienes Caligari (1919) als expressionistischer Schocker verwertet wurde, sollte in Luis Bunuels Un Chien Andalou schließlich ein Bilder-Zeremoniell des Unbewußten feiern. Sein berühmter Augen-Schnitt war es auch, der dem Kino 1928 einen weiteren Eklat besorgte.

Polanski wird später den Titel Ekel im Vorspann scharf durch Catherine Deneuves Iris fahren lassen. Ein Knicks vor dem surrealistischen Altmeister und eine raffinierte Absichtserklärung, die nicht nur auf den Voyeurismus des Mediums zielt, sondern ebenso auf eine Pathologie des Blicks. Denn es sind die Bilder, die Gewalt über die von Deneuve verkörperte Carol haben. Ihr verdrängtes Begehren, ihr Wahn, den die Kamera übernimmt, bis Hände aus den Wänden wachsen und vermeintliche Vergewaltiger im Spiegelbild erscheinen. Ekel ist weniger klinische Fallstudie einer Sexualneurose, sondern vor allem eine grandios inszenierte optische Unterwerfung. Die Kamera ist der einzige Eindringling. Carol bleibt die Erblickte. Sie macht sich kein Bild, sie ist es.

In John Cassevetes meisterhaftem Kammerspiel A Woman Under Influence ist die Leidensgeschichte der Protagonistin Mabel (Gena Rowland) vor allem ein Reflex auf eine Gesellschaft, für die alles krankt, was den Konsens und seine schmale Vorstellungskraft überschreitet. Der Mittelstand ist die eigentliche Hölle, nicht Mabels deftige Unverschämtheiten und unpassende Ausbrüche. Wenn sie vor geladenen Gästen das Protokoll sprengt, aufs Sofa hüpft, um sich als sterbender Schwan für einen Moment zu verlieren, oder einfach alle noch vor dem Dessert rausschmeißt, kommt das einer Unabhängigkeitserklärung gleich. Darauf kennt das soziale System nur eine Antwort: Bestrafung. Im Freudschen Universum ist Mabel schizoid. Bei Cassevetes jedoch beschreibt sie die Krankheit der Welt, in der das Leben eine stumpfe Abfolge immer kleinerer und immer grausamer scheiternder Revolten ist. Das gemeinsame Aufräumen danach, das Zurechtzupfen von wirren Haaren und Gardinen, das ist schon das ganze Glück. Funktionieren. Mehr gibt es nicht.

Auch bei Tom Tykwers Tödliche Maria erreicht die Trostlosigkeit im Kleinbürgertum den höchsten Grad an Perfektion. Die Ehe funktioniert als Martyrium aus sexuellem Ekel und bleierner Langeweile, bis die Hausfrau Maria ihre Seele in ein surreales Paralleluniversum umziehen läßt. Weit weg vom Fußnägelschneiden beim bettlägrigen Vater, vom Schnittchenschmieren für den Gatten. Doch der Alte krepiert, der Ehemann tobt und die Schwerkraft des Realen läßt Maria aus dem Küchenfenster stürzen.