Behindert, gemobbt und dann noch gefeuert

Die Arbeitsplatzsicherheit ist passé: Schwerbehinderte Menschen leiden besonders unter der Personalpolitik des Senats. Von Vorbildfunktion des öffentlichen Dienstes kann keine Rede mehr sein. Stellenstopp und die Privatisierung von Jobs bringen zusätzliche Schwierigkeiten  ■ Von Peter Kasza

Ich war im Bereich Informations- und Sicherheitstätigkeit beim Bezirksamt Marzahn angestellt“, sagt Annette Hans stolz, wenn sie von ihrem ehemaligen Job erzählt. Konkret bedeutete dies, daß sie insgesammt vier Jahre an den Pforten von Seniorenheimen und Jugendbehörden saß – alles Einrichtungen des Bezirksamtes. 1997 wurde sie entlassen. Seitdem ist sie arbeitslos. Aussicht auf einen neuen Job hat sie nicht. Mit 47 Jahren ist sie zu alt, zudem seit dem Kindesalter infolge einer Hirnhautentzündung zu 60 Prozent schwerbehindert.

Ihr Fall ist exemplarisch für die Situation Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst. Das Land muß sparen, und es herrscht bis 2005 ein genereller Einstellungsstopp. Nur in wenigen Fällen sind Ausnahmen von dieser Regelung möglich. 13.000 Angestellte füllen momentan die Überhanglisten. Um diese zu verkleinern, werden Aufgaben ausgelagert und an private Firmen abgegeben. Das geschieht oftmals in Bereichen, in denen die körperlichen Herausforderungen nicht so hoch sind: Bereiche, in denen viele Behinderte arbeiten.

Die neuen, privaten Arbeitgeber müssen sich zwar verpflichten, alle Angestellten zu übernehmen – ob schwerbehindert oder nicht –, doch mit dem Ausmaß der Arbeitsplatzsicherheit, wie sie im öffentlichen Dienst herrscht, ist es dann passé.

Annette Hans hatte keine Sekunde gezögert, als sie sich 1995 zwischen der Überhangliste und dem alten Job, wenn auch unter veränderten Vorzeichen, entscheiden sollte. Das Bezirksamt übergab die Pförtneraufgaben an eine private Sicherheitsfirma und versüßte den Angestellten die Entscheidung mit einer Abfindung in Höhe von 20.000 Mark. Die private Firma übernahm die 27 Angestellten, unter ihnen 13 schwerbehinderte. Zwei Jahre später waren nur noch vier Schwerbehinderte übrig, den anderen war nach und nach gekündigt worden.

Auch Annette Hans konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß „die mich von Anfang an auf dem Kieker haben“. Und so kam im Juni 1997, nach nur zwei Jahren, unweigerlich das Aus: sie verlor ihren Job. „Die haben mir richtiggehend eine Falle gestellt“, sagt Annette Hans. 1995 erhielt sie die Abfindung unter der Bedingung, daß sie die beim Wiedereintritt zurückerstattet. Doch das Geld ist jetzt weg.

Ob es ihr besser ergangen wäre, wenn sie nicht in die Privatwirtschaft gewechselt wäre? Michael Röhle, Vertrauensmann der Schwerbehinderten im Bezirk Marzahn, bezweifelt das. „Die Situation der Behinderten im öffentlichen Dienst hat sich in den letzten Jahren verschlechtert.“ Der Kampf um die Arbeitsplätze habe sich verschärft. Nichtbehinderte Kollegen seien der Ansicht, wenn schon eine Stelle eingespart werde, dann doch bitte schön die des Behinderten. So werden viele rausgemobbt. Entlassen werden können sie nicht, da sie unter einem besonderen Kündigungsschutz stehen.

Sie rutschen auf den Überhang und werden hin und her geschubst. Besonders geistig Behinderte leiden psychisch unter einer solchen Situation.

Dem Gesetz nach müssen Arbeitgeber mit mindestens 16 Arbeitsplätzen wenigsten sechs Prozent der Stellen mit Schwerbehinderten besetzen. Der öffentliche Dienst hat sich im „Fürsorgeerlaß“ auferlegt, mit gutem Beispiel voranzugehen. Zwar erfüllt er mit 5,5 Prozent die Quote besser als die Privatwirtschaft mit 3,5 Prozent. Dennoch blieben in Berlin im Jahre 1996 1.013 Stellen unbesetzt. Kein billiges Unterfangen. Pro nichtbesetzter Stelle muß das Land im Monat 200 Mark an die Hauptfürsorgestelle abführen – macht im Jahr 2,5 Millionen Mark. Um dem entgegenzuwirken, setzt die Innenverwaltung vermehrt darauf, Schwerbehinderte aus den eigenen Reihen zu rekrutieren. Eifrig verteilte sie an die Beschäftigten der Bezirksämter Antragsvordrucke mit der Bitte, sich doch als schwerbehindert anerkennen zu lassen.

„Derzeit kommen zirka 80 bis 90 Prozent aus den eigenen Reihen“, schätzt Michael Wiedeburg, Schwerbehindertenvertreter beim Senat. Neueinstellungen Schwerbehinderter will man also möglichst vermeiden.

Welch seltsame Blüten das treiben kann, verdeutlicht der Fall von Andrea Schatz. Im April 1996 suchte das Bezirksamt Marzahn „eine/n Behindertenbeauftragte/n“. Der Bezirk beschäftigte damals 4,91 Prozent Schwerbehinderte. 31 Pflichtplätze waren unbesetzt. Jährliche Kosten: 74.400 Mark. Bei Anstellung eines Behinderten ist es möglich, bis zu fünf Jahre 100prozentige Lohnzuschüsse von der Hauptfürsorgestelle zu erhalten. Ferner können für die Anstellung eines Behinderten, abhängig vom Grad der Behinderung, bis zu drei Pflichtplätze angerechnet werden. Grund genug also, sich um eine/n Schwerbehinderte/n zu bemühen. „Frauen und Schwerbehinderte bei gleicher Eignung bevorzugt“, hieß es dann auch in der Stellenausschreibung des Bezirksamtes. Gefordert wurde von den Bewerbern: ausgeprägtes Engagement im Umgang mit behinderten Menschen, soziales Verständnis, hohe Belastbarkeit und Flexibilität, Kenntnisse des Arbeits- und Tarifrechts sowie des Schwerbehindertengesetzes.

Der Job war auf Andrea Schatz geradezu zugeschnitten. Sie hatte Kunstwissenschaften studiert, blickte auf acht Jahre Berufserfahrung im Bereich der Behindertenfürsorge und beim Senat zurück. Zudem ist sie erstens Frau und zweitens schwerbehindert. Gute Ausgangspositionen also. Zwei Frauen kamen in die engere Auswahl. Andrea Schatz und eine nichtbehinderte Bewerberin. Das Bezirksamt entschied sich für die nichtbehinderte Frau – unter anderem deshalb, weil sie im Gegensatz zu Andrea Schatz der Arbeit gegenüber „unvoreingenommen“ sei, wie das Bezirksamt später vor dem Arbeitsgericht argumentierte. „Andrea Schatz war eindeutig höher qualifiziert, sie hätte der anderen Bewerberin vorgezogen werden müssen“, so die Einschätzung von Wiedeburg. Doch Marzahns Bürgermeister Harald Buttler (PDS) und der Personalrat waren anderer Meinung. „Die andere Bewerberin war die stärkere Partnerin. Sie war besser qualifiziert, innovativ, selbständig, und sie verfügte sie über die notwendige Mobilität“, begründet Buttler die Entscheidung. Fehlende Qualifizerung aufgrund eingeschränkter Moblität, weil Andrea Schatz im Rollstuhl sitzt? „Ja natürlich, sie muß ja auch raus, zu den Veranstaltungen der Behinderten.“

Neuanstellungen sind meist geprägt von derartigen Vorurteilen. Wann erfüllt ein Bewerber die Voraussetzung „bei gleicher Qualifikation“, wie es Artikel 14 des Schwerbehindertengesetzes vorsieht? Das beruht auf der subjektiven Einschätzung des Personalrats. Noch absurder wird die Geschichte Andrea Schatz', wenn man beachtet, daß die nichtbehinderte Bewerberin aufgrund des Stellenstopps gar nicht eingestellt werden konnte. Der Stellenstopp gilt laut einer Personenlenkungsmaßnahme der Innenverwaltung jedoch nicht für Behinderte. Andrea Schatz hätte also sofort die Arbeit antreten können.

Um Recht zu erlangen, zog sie vor das Arbeitsgericht. „Frau Schatz ist einzustellen“, entschied es. Das Bezirksamt ging in Berufung. Nach fast zwei Jahren Gerichtsstreit wurde es ihr zuviel. Sie verabredete sich mit dem Bezirk auf eine Ausgleichszahlung in Höhe von 5.000 Mark. Seit Anfang Februar hat die nichtschwerbehinderte Frau den Platz der Schwerbehindertenbeauftragten eingenommen – mit einer Sondergenehmigung der Innenverwaltung.