Spione für Voyeure

■ The Undercover Girl: Eine Website aus Norwegen behauptet, daß Künstler im Internet zu Geheimagenten ihrer Konsumenten werden

Revolutionäre wollen manchmal nur deswegen die Welt verändern, damit sie ihre eigenen Grundüberzeugungen nicht ändern müssen. Ausgerechnet im globalen Netz von Computern sehen deshalb amerikanische Kommunitaristen bis hinauf zu Al Gore am liebsten nur eine permanent tagende Gemeindeversammlung, die mit nichts anderem beschäftigt ist als den Anträgen ihrer ausnahmslos freien und gleichen Mitglieder. Avantgardisten der Kunst sind in der Regel weniger naiv, aber auch sie glauben gerne, daß es die Technik nun endlich geschafft habe, den ästhetischen Ansprüchen der jeweiligen Moderne nachzukommen. Kaum ein künstlerisches Credo fehlt deshalb im World Wide Web. Neorealisten, Konzeptionalisten, Pop-Artisten, Minimalisten und postmoderne Eklektizisten sind plötzlich Webkünstler geworden, obwohl sie nur tun, was sie immer schon tun wollten – und mehr oder weniger gut konnten.

Die Verknüpfung von mehreren Millionen Computern ist tatsächlich eine Revolution, aber nur eine technische. Ob die Kunst davon profitiert, ist ungewiß. Die neue Technik scheint neue Vertriebswege zu öffnen, die Produktionsmittel jedoch, die sie anbietet, sind erbärmlich. Dennoch sind Computernetze schon so weit in den Wirtschaftsprozeß integriert, daß sie dabei sind, den privaten Konsum zu reformieren. Unvermeidlich steht damit auch der Begriff zur Disposition. Künstler können darauf nur reagieren, definieren können sie diesen noch undeutlichen Begriff nicht, er wird allein durch die kommerzielle Nutzung der revolutionären Technik weiter ausformuliert.

In Norwegen, am Rande der internationalen Szene, reflektiert eine Gruppe von Künstlern seit letztem Jahr in entspannter, sogar unterhaltenden Form diesen Prozeß. Das Ergebnis ist das Projekt „The Undercover Girl“, das aus einer Website (www.powertech.no/ tug), dem Plan eines gedruckten Magazins und – als Kern des Konzepts – einer Mailadresse für Kunstwerke besteht.

Nun ist die Idee eines Kollektivkunstwerks alle andere als neu. The Undercover Girl, abgekürzt „TUG“, ist jedoch nicht nur eine weitere Variante des politisch motivierten Gedankens einer neuen Volkskunst, der auf mehreren Webservern gepflegt wird. Das bedeutendste Beispiel dafür ist das Projekt „SITO“ des Comiczeichners Ed Stasny, das inzwischen zu einem kaum noch überschaubaren Sammelsurium wild bewegter, vor keinem Kitsch zurückschreckender Bekenntniskünstler herangewachsen ist. Ganz anders TUG. Schon der Name verbietet jede demokratische Illusion. The Undercover Girl ist eine Verschwörung von Agenten im Dienste einer fiktiven, namenlosen, wahrscheinlich allmächtigen Regierung. Dieser Orden schafft keine Kunst von unten. Statt dessen spionieren seine Mitglieder hinter jeder Gardine, ihr mutmaßliches Waffenarsenal ist an einer Liste von Links abzulesen, die auf militärische High- Tech-Firmen verweisen.

Natürlich ist das ein ironisches Spiel mit dem historischen Ursprung des Internets und den Motiven der Science-fiction, aber in dieser Maske steckt eine überraschend plausible Idee. Kunst wird schon bald nur das sein, was die Leute im Netz sehen, so lautet die Anfangsvermutung. Dann aber wird im Netz auch nur zu sehen sein, was die Leute dort von sich sehen lassen, so spinnt The Undercover Girl den Gedanken zu seiner eigenen Kunsttheorie weiter. Je mehr sie sehen lassen, desto besser, die Kunst muß deswegen zur Spionage im Auftrag anonymer, aber strikt individueller Konsumenten werden. Am Heimcomputer sitzen Voyeure, sie dulden keine Geheimnisse, bei niemandem; kein Zufall deshalb, daß die Webkamera im Schlafzimmer der Exhibitionistin Jennifer Ringley zu den größten Hits des Netzes gehört.

Unter dem Menü „Anonymous Agents“ sind auf der Website von TUG die ersten Ergebnisse dieser Theorie zu betrachten. Der Geheimdienst nimmt jederzeit neue Mitglieder auf. Ihr Leben werde sich damit grundsätzlich verändern, heißt es auf dem Bewerbungsformular. Neue Reize „außerhalb der Statistik“ und schließlich eine neue Art, sich selbst zu sehen, seien der Lohn, jeden Abend aber werde der oberste TUG in der Zentrale die Berichte seiner Agenten genaustens analysieren.

25 dieser Geheimreporte sind bisher der Veröffentlichung online für wert befunden worden – die kleine Ausstellung ist die Vorschau auf einen neuen Kunstmarkt online. Die Kriterien der formalen Qualität oder gar des persönlichen Prestiges haben ausgedient. Das Gesicht eines Agenten darf niemals bekannt werden, alles dagegen, eine Szene am Nebentisch, ein Traum, der hängenblieb, ein Satz- oder ein Gedankenfetzen, ist Gegenstand der Spionage, mahnt die Zentrale, und so haben sich die nur unter einem Tarnnamen bekannten Verschwörer fleißig an die Arbeit gemacht. „Ms Postmodernism“ hat gleich ein komplettes Traktat ihrer eigenen „Herstory“ übermittelt, „the inficious agent“ berichtet in aufwendigen Grafiken aus der Welt der Immunforschung, „Isaèthe“ teilt ihren Lebenslauf und ein Gedicht mit, „Pieker Doer“ entdeckt, daß „je dünner, desto besser“ ist, und schreibt in rot pulsierender Schrift „I like my body“, „Lola“ findet das Bild ihrer Schamhaare auf einer Kleiderbürste und mäandernde Ausschnitte der Fotografie ihrer Haut auf Baustellen, „A.V.G.S“ hat ein Autowrack in einer Garage fotografiert, „Arne“ sich selbst am Hafen mit schwarzer Limousine – natürlich hat er danach seine Augen auf dem Bild geschwärzt. Das Foto ist miserabel, aber auch Arne ist ein guter Agent, so gut wie die anderen, die sich bilderlos an ihren bedeutungsschweren existentialistischen Texten abarbeiten.

Kaum etwas davon könnte in einer Ausstellung für sich bestehen – weder in der analogen noch in der digitalen Welt. Hier aber wird es weniger aufgewertet als vielmehr umformuliert. Kunstwerke sind diese Beiträge nur, weil sie im Auftrag eines globalen Geheimdienstes entstanden. Indem er sie veröffentlicht, zeigt er, was er selber ist: der universale Voyeur, der mit Hilfe des Internets alle Grenzen überwinden kann, auch die der Intimität und der Moral. Zu Recht ist sein Symbol auf der Website von TUG das Fadenkreuz eines Zielfernrohrs. Für die Konsumenten im Internet besteht die Wirklichkeit nur noch aus den Bruchstücken, die in diesem aggressiven Fokus zu sehen sind. Auch die Kunst unterliegt, wenn sie sich ins Netz begibt, diesem monomanischen, keineswegs kommunikativen oder gar radikaldemokratischen Gesichtspunkt. Niklaus Hablützel

niklaus@taz.de