Der Finger

...am Abzug ist nicht immer der Finger, der abdrückt. Einige Bemerkungen zur Ästhetik des Schießens  ■ Von Christina Nord

Die erste Szene ist ein Ritual. Ein Nachtclub flackert in buntem Licht, Leiber bewegen sich zu baßlastigem Sound, sicheren Schritts bahnt sich einer den Weg durch die tanzende Masse. An einem Tisch macht er halt, holt eine Patrone hervor, in die einige Linien eingraviert sind, möglicherweise ein chinesisches Schriftzeichen. Die Gesellschaft, der er gegenübertritt, gruppiert sich um die Tafel, als wollte sie das Abendmahl nachstellen. Und tatsächlich: Die sich hier versammeln, sollen nie wieder dinieren. Obschon jedem klar ist, daß Wörter nichts am vorherbestimmten Ablauf ändern werden, kommt es zu einem kurzen Duell verbaler Art. Dann sprechen nur noch die Waffen, deckt sich das Geräusch der Kugeln mit den Beats, die aus den Boxen dringen, bewegen sich die Leiber in einer kunstvollen Choreographie, an deren Ende allein der Mann übrigbleibt, der sich kurz zuvor den Weg durch die Menge bahnte. Gegen zehn oder mehr Leibwächter anschießend, meisterhaft in Wendigkeit und Reaktionsvermögen, Herr seiner Pistolen und Gliedmaßen, übersteht er den Kugelhagel: ein Achill, der noch im schärfsten Kreuzfeuer unverwundbar bleibt.

Die zeitgenössische Version des griechischen Helden trägt ein melancholisches Gesicht und einen Allerweltsnamen: Johnny Lee. Verkörpert wird sie von Chow Yun-Fat, neben Jackie Chan einer der Stars im aktuellen Hongkong- Actionkino. Johnny Lee ist Berufskiller, tätig in einer Stadt, die in erster Linie aus Lagerhallen, Autowaschanlagen und Spielotheken besteht, einer Stadt, die irgendeiner Phantasie von Chinatown und Hongkong Rechnung trägt und die – das ist das wichtigste – die idealen Kulissen für Schießereien bietet. Johnny Lee ist ein guter Killer, einer, den Gewissensbisse plagen, was nicht weiter verwundert, ist doch Chow Yun-Fat auf die Rolle des skrupulösen Mörders abonniert.

In seinem Hollywood-Debüt „The Replacement Killers“, das von Antoine Fuqua inszeniert und von John Woo koproduziert wurde, steht Yun-Fat alias Lee im Dienste des Triadenkönigs Mr. Wei. Der beauftragt ihn, Rache an einem Polizisten zu üben. Doch Lee ist es gewohnt, auf böse Gangster zu zielen. Ein guter Mensch oder gar ein kleines Kind im Visier – das will ihm nicht übers Herz. Also widersetzt er sich dem Befehl. Der Ärger läßt naturgemäß nicht lange auf sich warten.

Doch die Wendungen des Plots, wen interessieren sie schon? Jeder weiß, daß sie einem Schema folgen; sie sind Nebensache oder – schlimmer – sogar ärgerlich. Letzteres deswegen, weil sich „The Replacement Killers“ in fernöstlichem Kitsch (Buddha! Tempel! Räucherstäbchen!) ergeht, nebenbei ein Hohelied auf die gute alte Familie inclusive deren Werte anstimmt und noch dazu mit unfreiwilliger Komik operiert. Denn daß Beziehungskomödiant Til Schweiger (wie Yun-Fat zum ersten Mal in Hollywood) einen knallharten Killer mimen will, das dürfte zumindest für das hiesige Publikum zur Lachnummer geraten.

Wichtiger als jede Handlung, wichtiger als jede Figurenzeichnung ist das Schießen. Das Schießen, das den Vertrag mit der Erdanziehungskraft aufkündigt, so kunstvoll wirbeln die Akteure durch die Luft. Das Schießen, das seine Ästhetik aus den Bewegungen des Kung-Fu gebiert, das stets noch einen neuen Trick, eine neue Volte, eine neue Raffinesse kennt, das Körper und Waffe zu einer Einheit verschmelzen läßt, wie es einmal, in einem ganz anderen Zusammenhang, ein nicaraguanischer Guerillero hervorhob: Die Waffe werde „zu einem Stück von dir, ein weiteres Glied und eines der wichtigsten Glieder“, in „Fleisch und Blut“ gehe sie über. Die Waffe, das ist die Fortführung des Körpers mit anderen Mitteln, und sie ist es gerade und besonders in den Actionfilmen, die aus Hongkong stammen.

Um zu erraten, mit welchem Teil des Körpers eine Pistole gerne und oft assoziiert wird, braucht es nicht viel der Phantasie. „Er ist sehr potent“, sagt eine Sensationsreporterin in Oliver Stones „Natural Born Killers“ über den Helden und Massenmörder Mickey. Daß sich der unmittelbar anschließende Satz – „Er hat ein großes Ding“ – nur vordergründig auf Mickeys Knarre bezieht, dürfte niemandem entgehen. Die Pistole ist ein Phallus; je größer das Kaliber, um so besser. Kein Wunder, daß vor diesem Hintergrund eine 45er Magnum längst nicht mehr ausreicht. Schwereres Geschütz ist nötig, und deswegen geraten die Schießszenen in „Natural Born Killers“ und anderswo leicht zu Metzeleien. Nicht daß in Hongkong kein Blut flösse, im Gegenteil – in Woos „The Killer“ (1988) etwa gibt es eine Szene, in der die zwei good guys, beide in weiße Anzüge gewandet, gegen eine ganze Armee von ebenfalls weiß gekleideten bad guys antreten, und zwar vor dem Hintergrund eines weitgehend weiß gehaltenen Bauhausambientes. Unnötig zu sagen, daß sich im Lauf der Schießerei einiges rot färbt, ganz so, als übte sich ein unsichtbarer Gott in Farbkomposition, damit sich uns der Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Bedeutungsfeldern von „schießen“ mit aller Wucht offenbart. Denn in besagter Szene aus „The Killer“ geschieht nichts anderes, als daß Bilder buchstäblich geschossen werden. Das ist – man mag es zynisch finden oder nicht – sehr schön anzuschauen.

„Natural Born Killers“ spart sich derlei Anleihen aus dem Reich der schönen Künste. Hier ist ein Schuß ein Schuß und kein Pinselstrich. Hier scheren die jugendlichen Helden aus der Norm aus, indem sie rauschhaft und unterschiedslos töten; in Hongkong hingegen wird zum Abweichler, wer das Schießen verweigert. Die Auflehnung gegen die Triadenbosse ist wiederkehrendes Motiv und Triebfeder der Filme. Die Schlüsselszene von „The Replacement Killers“ macht dies deutlich: Behutsam packt Johnny Lee sein Präzisionsgewehr aus, steckt die Einzelteile zusammen, produziert dabei allerlei klackende Geräusche, die den bald fallenden Schuß wie eine Verheißung in sich tragen. Schon schmiegt sich das Gewehr sanft an die Wange seines Herrn, wird zum Erotikum, von genau der kreisenden Kamera umspielt, die sich normalerweise auf Liebespaare richtet. Daß Lee in diesem Augenblick nicht schießt, ist ein wenig wie ein vor der Zeit abgebrochener Geschlechtsakt. Und es ist der Ausbruch aus der Konvention, ohne den der Plot nicht in Gang käme.

Frauen haben, so scheint es, in dieser Welt nicht viel verloren. Wo Waffe und Virilität einander bedingen, da können sie nicht mehr als Beiwerk sein, Figuren, deren Funktion darin liegt, vom Helden gerettet zu werden. Wenn überhaupt, dann mag man die Waffe den ohnehin des Penisneids bezichtigten Lesben zugestehen, wie es beispielsweise in Michael Winterbottoms „Butterfly Kiss“ geschieht. Eine zweite Möglichkeit liegt im von vornherein bestimmten Scheitern: So wie vor langer Zeit die Geschichte einer Ehebrecherin nicht anders denn in Selbstmord münden konnte, so kann es auch heute für die Frau, die sich die Waffe anmaßt, kein glückliches Ende geben. In der Tsui-Hark-Produktion „Black Mask“ zum Beispiel begegnet einem in der Figur der Yu Lan eine begnadete Kämpferin, die – anders als der Held und dessen Schutzbefohlene – um so tiefer stürzt, je höher sie sich aufschwingt. Der Killerin aus „Beyond Hypothermia“ ist kein besseres Ende beschieden, und auch in „Set It Off“ wartet ein elendiger Tod auf Queen Latifah, die doch nichts anderes wollte, als mit der Waffe in der Hand für die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums zu sorgen. Die Ausnahmen – Jackie Brown etwa oder die drei Kämpferinnen aus „The Heroic Trio“ – könnten eine Verschiebung andeuten, zumal das vermeintliche Phallussymbol durchaus auch weibliche Züge trägt. Schließlich wird Johnny Lees Präzisionsgewehr wie eine Geliebte präsentiert, und Omar Cabezas, der Befreiungskämpfer aus Nicaragua, wußte von compañeros zu berichten, die ihre Waffen mit Frauennamen anredeten.

Der wichtigste Augenblick indes hat wenig mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung oder phallischer Symbolik zu tun. Er vollzieht sich, wenn mehrere Akteure so zusammentreffen, daß jeder von einer Pistolenmündung anvisiert wird und zugleich den Lauf der eigenen Waffe auf den Nachbarn richtet: Ein komplexes Netz der Bedrohung entsteht, eine fragile Balance, die nicht lange währt, bevor ein Zucken, ein Windzug oder ein Lidschlag den Kugelhagel auslösen. John Woos Filme wären nicht, was sie sind, würden sie nicht wieder und wieder mit dieser Konstellation arbeiten.

Wie man nun ohne große Umschweife von Hongkong nach Madrid gelangt, das zeigt Pedro Almodóvar in dem perfekt inszenierten Reigen „Live Flesh – Mit Haut und Haar“ (im Original: „Carne trémula“ – Zitterndes Fleisch). Obwohl der mittlerweile zwölfte Spielfilm des spanischen Regisseurs mit Gangstern nichts zu tun hat, obwohl er nicht mehr als vier Schüsse braucht, läßt er sich doch als eine Fortführung des Hongkong-Kinos sehen – mit anderen Mitteln, versteht sich. Ursprünglich wollte Almodóvar sogar eine Schußszene aus Woos „Hard Boiled“ zitieren, entschied sich dann aber doch für einen Ausschnitt aus „Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz“ von Altmeister Luis Buñuel. Dieser Ausschnitt flimmert im Hintergrund über den Bildschirm, während sich im Vordergrund der für Woo so charakteristische Augenblick abspielt. Vier Menschen und drei Pistolen verbinden sich zu einem Gefüge, in dem mal der eine, mal der andere zur Geisel wird. Almodóvar geht dabei noch einen Schritt weiter als Woo: Denn seine fünf Protagonisten verhalten sich auch dann wie aufeinander zielende Gangster, wenn sie keine Waffen in der Hand haben.

Die zwei Frauen und drei Männer bilden ein unfreiwilliges Bündnis, das durch leichteste Erschütterungen aus dem Gleichgewicht gerät. Der aggressive Sancho (José Sancho), seines Zeichens Polizist, Macho und Trinker noch dazu, leidet an der Untreue seiner Frau Clara (hinreißend: Angela Molina). Deswegen wird er zum begnadeten Ränkeschmied. Wie Woos Gangster zielt er nicht unmittelbar auf den Rivalen, um sich zu rächen, sondern benutzt einen Unbeteiligten: den jungen Victor (Liberto Rabal). Der Finger am Abzug einer Pistole, lernen wir dabei ganz beiläufig, ist nicht immer der Finger, der abdrückt. Später will David (Javier Bardem) die Strategie seines ehemaligen Kollegen Sancho übernehmen, um an seinen Widersacher heranzukommen. Doch ihm ist weniger Glück beschieden; sein Versuch, intrigierend über das Geschick anderer zu bestimmen, richtet sich letztlich gegen ihn selbst. Am Ende ist seine Hybris des anderen Glück, geht es ihm wie Yu Lan aus „Black Mask“: Je höher er sich aufschwingt, um so tiefer ist sein Fall.

„Live Flesh – Mit Haut und Haar“. Regie: Pedro Almodóvar. Mit Liberto Rabal, Francesca Neri, Angela Molina, Javier Bardem, José Sancho. Sp 1997, 100 Min.

„The Replacement Killers“. Regie: Antoine Fuqua. Mit Chow Yun-Fat, Mira Sorvino, Jürgen Prochnow u.a. USA, 112 Min.