Achtung vor denen, die gelitten haben

Erst 2003 wird das Gefängnis im ehemaligen KZ Neuengamme aufgegeben  ■ Von Heike Haarhoff

Direkt am Sportplatz führt der Weg mit den Gedenktafeln vorbei. 106.000 Menschen aus ganz Europa zwangen die Nazi-Diktatoren in das Konzentrationslager Neuengamme. 55.000 von ihnen starben, mißbraucht für medizinische Experimente, zu Tode geschunden, ermordet. „Was glauben Sie, wie beschissen man sich fühlt“, wenn man keine andere Wahl hat, als an dieser „Stätte des Grauens Sport zu machen und außerdem noch hier leben muß“, sagt Alexander Friese.(*)

Der 37jährige ist einer von knapp 300 Gefangenen im offenen Vollzug der „Justizvollzugsanstalt Vierlande“, wie das Gefängnis auf dem Gelände und in den Gebäuden des ehemaligen KZ im Behördendeutsch heißt. 53 Jahre nach Kriegsende nutzt Hamburg den Ort, an dem das NS-Regime Menschen einsperrte und quälte, weiterhin als Knast. Seine Verlegung nach Billwerder ist seit zehn Jahren geplant.

Frühestens im Jahr 2003 aber, das gab die Justizbehörde in dieser Woche bekannt, kann mit dem Umzug auf eine Marschenwiese östlich der Autobahn 1 am Billwerder Billdeich gerechnet werden. „Wir sitzen hier wie im Zoo hinter Gittern, und die Hinterbliebenen müssen dran vorbeilaufen und das alles ertragen.“ Alexander Friese ringt nach Worten, „es ist eine Zumutung für beide Seiten.“

Die war auch Ex-Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) bewußt, als er am 4. Mai 1995, dem 50. Jahrestag der Befreiung des KZ Neuengamme, der Opfer gedachte: „Falsch war es, die Justizvollzugsanstalt Vierlande ausgerechnet auf dem ehemaligen Gelände des Lagers einzurichten“, distanzierte er sich von der Entscheidung der ehemaligen Hamburger Regierung unter Max Brauer (SPD) aus dem Jahr 1948. „Was falsch war, wollen wir so nennen – und endlich ändern“, erneuerte Voscherau damals sein Versprechen, das er der Amicale Internationale, der Organisation der KZ-Überlebenden, erstmals bereits kurz nach seinem Amtsantritt 1988 gegeben hatte. „Die Achtung vor denen, die gelitten und überlebt haben“, gebiete die Verlegung des Knasts und die Würdigung von Neuengamme als Gedenkstätte.

Eine langwierige Standortsuche und die Weigerung des Bezirks Bergedorf, die auserkorene Wiese in Billwerder gegen den Willen der Bevölkerung einem Gefängnisbau zu opfern, geboten dann jahrelangen Stillstand. Erst auf Anweisung des Senats sahen sich Bergedorfer Verwaltung und Bezirkspolitiker am Dienstag genötigt, die Öffentlichkeit über den städtischen Plan zu informieren, ab 2000 und für 96 Millionen Mark ein neues Gefängnis auf einer „wertvollen Feuchtwiese mit Brutrevieren für Vögel“ zu bauen.

Das Reizwort „Öko“ reicht den rund 200 Versammelten, die am Ende dieses Abends Papiermüll, Bierflaschen und Taschentücher achtlos im Diskussionssaal zurücklassen, um ihren geballten Zorn über die Widrigkeiten des eigenen Lebens auf das Gefängnis zu projizieren: Ein „Schildbürgerstreich“ sei es, „Millionen Steuergelder zu verpulvern“, um „für Straftäter“ fünf niedriggeschossige „Luxus-Gebäude“ plus Verwaltungshaus, Sporthallen und Werkstätten in eine „herrliche Landschaft“ zu setzen.

„Es war der Wunsch von Voscherau, jetzt ist der abgewählt, da kann man doch auch dieses Projekt einstampfen“, schlägt ein aufgebrachter älterer Herr vor. Äußerlich gelassen verfolgt Gerhard Feldmeyer, Architekt des neuen Knasts, wie über seinen 1993 preisgekrönten Entwurf gerichtet wird. „Bei solchen Diskussionen gibt es immer viel Egoismus“, sagt er später, und es klingt fast entschuldigend.

„Privatisieren und ins Ausland verlagern“ solle man alle Knäste, fordert das johlende Publikum. Die Verwaltung ist der Situation nicht mehr gewachsen. Die Verhältnisse zurechtzurücken, zu erinnern, daß ein Ort nationalsozialistischen Verbrechens kein Ort für ein Gefängnis sein darf, wagt sich keiner. Schließlich greift Diskussionsleiter Peter Gabriel (SPD) zaghaft ein: „Der Senat hat entschieden.“ Weiter kommt er nicht. Bierflaschen gehen scheppernd zu Boden, „Verarschung“ schimpft es, Leute verlassen reihenweise den Saal. Ihnen wird klar: Diesmal muß Hamburg sein Versprechen halten. Spät, aber endlich.

* Name v. d. Redaktion geändert.