Das Kind Woyzeck

■ Im Podewil probt das Theater den Aufstand gegen das Theater und behauptet sich nur mit Mühe zwischen den übergroßen Bildern

Wer wirklich reich und berühmt ist, der tummelt sich in diesen Tagen mit Vorliebe auf oder vor den kurzzeitig wiederbelebten Brettern des Schiller Theaters oder der Freien Volksbühne. Das derzeit zum dritten Mal stattfindende Theaterfestival im Podewil hat sich das Label „reich & berühmt“ übergezogen wie der Kaiser seine neuen Kleider: als freche Behauptung, die aufhorchen läßt und die Wahrnehmung zum Stolpern bringt. Hier will man vor allem anders sein: Die Teilnehmer der ultimativen Gegenveranstaltung zum 35. Theatertreffen über „den Ausbruch aus dem Stillstand der künstlerischen und politischen Lage“ (showcase beat le mot) setzen im Kampf gegen das kulturelle Establishment auf „Fußball“, Technik und postmoderne Fragmentisierung.

Das alte Theater ist ein Museum – was zählt, ist das Event: Sei es die Ad-hoc-Inszenierung der eigenen literarischen Phantasie auf der Clubbühne, genannt „Poetry Slam“, oder das momentane „Sich- verschwenden“ an den (verschwindenden Ost-)Raum (Holger Friedrich, Knut Hirche) – was immer das „andere“ Theater sein mag, es ist es jetzt. Abend für Abend bringt der Schauspieler seinen „Innenraum“ zum Sprechen (Ivan Stanev, Jeanette Spassova), und zwischen der exhibitionistischen Eitelkeit der Performer und dem zahlungswilligen Voyeurismus des Publikums muß immer wieder neu verhandelt werden (She She Pop).

Da wirkt Harriet Maria Böges und Peter Meinings „Genetic Woyzeck“ vergleichsweise konservativ in seiner Fixierung auf den Text und andere vorgefertigte Elemente. Live ist hier nur einer, und entsprechend verloren schleicht er auch um sein winziges weißes Sofa: Lars Rudolph ist Woyzeck, und von den drei Leinwänden über seinem Kopf sprechen die anderen Figuren des Büchnerschen Dramas ihre Parts: Riesenhafte Fernsehansagerköpfe aus der Mottenkiste des Theater-Museums (Eva Mattes, Hanna Schygulla, Otto Sander, Ulrich Wildgruber u.a.) oder dem Selbstinszenierungsraum der Popkultur (hinreißend durchgeknallt: Blixa Bargeld und Udo Lindenberg) drangsalieren den „vergeistert“-„verhetzten“ Antihelden nach allen Regeln ihrer Kunst.

Gegen diesen Ansturm von Kopf-Bildern im doppelten Sinne käme keiner an. Armer Woyzeck! Als großäugiges und schwächliches Kind des Medienzeitalters flätzt er sich auf sein Sofa und nestelt autistisch an Taschenlampen und anderen Gerätschaften herum. Eine erbärmliche Existenz, durch Einflüsterungen fremdbestimmt und klein und unwichtig geworden inmitten der Stimmen und Bilder. Das Leben: ein Flickwerk aus Flimmern und Rauschen? Der abschließende Mord: ein Verscheuchen der Bilder im Versuch des Selberdenkens?

Die Inszenierung der beiden Dresdner, deren Arbeit im Februar mit dem Förderpreis ihrer Heimatstadt geehrt wurde, versteht sich als „Versuchsanordnung“, und die Zuschauer blicken aus einer Art Tonstudio in eine seltsame Welt hinter Glas. Doch so seminaristisch, wie die Projektbeschreibung in der Pressemappe anmutet – „Die Stimme und ihre Differenz“ –, bleibt es gottlob nicht: Durch die geschickte Montage der stark individualisierten Leinwandbilder erwächst dem Kopftheater eine Dynamik, die vor allem gegen Ende stellenweise soghaft wirkt. Und wenn es ans Töten geht, wird selbst Woyzeck lebendig, verläßt seinen angestammten Platz und tobt kreischend durch den dunkel gewordenen Raum. Allein: Ein Dialog zwischen den beiden Ebenen entwickelt sich nicht. Das ist zwar durchaus gewollt, doch als es einmal fast dazu kommt, ahnt man erst, was man entbehrt: In Martin Wuttke als Andres findet Rudolphs Woyzeck sein Spiegelbild und ein Aufflackern von Empathie: Wunderbar, das Wechselspiel zwischen verletzlicher Unschuld, aufkeimendem Zweifel und tiefstem Grauen so groß auf Wuttkes Gesicht zu sehen. Fast ist „Genetik Woyzeck“ wider Willen doch noch zu einem Abend der (Reichen und) Berühmten geworden. Sabine Leucht

Peter Meining, Harriet Böge: „Genetik Woyzeck“. Noch heute und morgen, 21 Uhr, Parochialkirche, Klosterstr. 67. Weitere Infos zum Festival unter 24749852/-53;

Kartentelefon: 24749777