Ungehemmt fließende Lebensenergie

■ Die traditionelle chinesische Medizin hat in Deutschland Hochkonjunktur. Für Schmerzpatienten ist sie eine Alternative zur oft wirkungslosen Schulmedizin. Untersuchungen belegen Erfolge durch die Akupunkt

Mehr als drei Jahrtausende sind vergangen, seit die ersten chinesischen Gelehrten ihre praktischen Erfahrungen in philosophischen Lehren zusammenfaßten. Zwar erwiesen sich die Therapien der traditionellen chinesischen Medizin bei vielen Krankheiten als erfolgreich, als aber im vergangenen Jahrhundert sichtbar wurde, daß die alten chinesischen Lehren, die bis heute keine Operationen kennen, gegenüber den weitverbreiteten Epidemien machtlos waren, gewann die westliche Medizin immer größeren Einfluß.

Die Diskrepanz zwischen Schul- und traditioneller chinesischer Medizin hat in China zu einer Koexistenz der beiden Medizinformen geführt. Die universitäre Ausbildung der Ärzte nimmt bis zu acht Jahren in Anspruch, wobei immer ein Jahr der Komplementärmedizin gewidmet wird – der „westliche“ Mediziner erlernt die Grundzüge der chinesischen Medizin und umgekehrt.

In Deutschland haben ostasiatische Heilmethoden Hochkonjunktur. Immer mehr Schmerzpatienten wünschen sich eine wirksame Alternative zur herkömmlichen schulmedizinischen Behandlung, die in vielen Fällen nicht mehr greift. Von den Risiken und Nebenwirkungen der Packungsbeilagen abgeschreckt, lernen die Patienten, die oft eine lange Krankengeschichte hinter sich haben, Qigong oder unterziehen sich einer Akupunkturbehandlung.

Rund 20.000 Ärzte, Heilpraktiker und Vertreter anderer medizinischer Berufe wenden die geschichtsträchtigen Nadelungen in Deutschland an. Nach der Lehre der traditionellen chinesischen Medizin sollen im Körper des Menschen Meridiane existieren, durch die das „Qi“ fließt – ein Begriff, der sich nur annähernd ins Deutsche übersetzen läßt. „Qi“ bedeutet in etwa soviel wie „Lebensenergie“. Auf den Meridianen sollen insgesamt bis zu 400 Akupunkturpunkte liegen. Werden diese Punkte gereizt, kommt es nach der chinesischen Vorstellung nach einigen Sitzungen zur Normalisierung des durch Krankheit gestauten Energieflusses. Die Harmonie ist wiederhergestellt: „Yin“ und „Yang“ sind ausgeglichen. Der Akupunkteur sticht Punkte direkt in das erkrankte Areal oder auch in Punkte mit „Fernwirkung“. Bis dato ist es den Naturwissenschaftlern nicht geglückt, die genaue Wirkung der Akupunktur wissenschaftlich zu untermauern; nachgewiesen ist nur, daß die Akupunkturnadeln zu einer meßbaren Senkung der Muskelspannung führen, die Durchblutung steigern und das vegetative Nervensystem positiv beeinflussen.

Während in Europa die Akupunktur in erster Linie bei Rückenschmerzen, Migräne, Rheuma, Neuralgien und vegetativen Störungen eingesetzt wird, vertrauen Ärzte in China auch bei vielen akuten Erkrankungen und Entzündungen auf die Heilkraft der Nadeln, die in Deutschland vom Nähmaschinenhersteller „Singer“ produziert werden.

Dr. Ammann, Leiter der Berliner Akupunktur-Akademie, ordnet die Akupunktur als eine „wichtige und interessante Ergänzung zur Schulmedizin“ ein. „Unbedingt erforderlich ist eine gründliche Ausbildung ohne Kochbuchcharakter“, so Ammann, der eine einheitliche Ausbildungsregelung fordert. „Jeder Anbieter stellt sein eigenes Diplom aus, so daß es für die Patienten schwierig ist, den Überblick zu behalten.“ Ammann bildet 20 Ärzte in Einjahresseminaren, auch in Pflanzenheilkunde, aus. Anfang der 80er Jahre wurden erstmals chinesische Kräuter nach Deutschland eingeführt und für die Therapie weiterbearbeitet. Auch im Deutschen Zentrum für traditionelle chinesische Medizin in Bad Füssing arbeiten die Mediziner seit letztem Jahr erfolgreich mit fernöstlichen Kräutermixturen. Der medizinische Leiter der 200-Betten-Klinik, Dr. med. Weizhong Sun, strebt eine enge Kooperation mit den Universitäten Regensburg und Shanghai an. „Die Kraft der traditionellen chinesischen Medizin liegt auch in der Kombination mit dem westlichen Ansatz“, erklärt Sun, der auch die Einrichtung eines Schmerzlabors plant. Eine Schwierigkeit stelle die Beschaffung von chinesischen Heilpflanzen dar. Der Import von Arzneien, die von unter Artenschutz stehenden Tieren stammen, sei natürlich in Deutschland unter Strafe gestellt. Tiger, Bären, Seepferdchen und viele andere bedrohte Arten werden in China immer noch pulverisiert und zu Medikamenten verarbeitet.

Bleibt die Frage der Kostenerstattung. Für die Krankenkassen ist interessant, daß die Heilerfolge durch traditionelle chinesische Medizin meist preisgünstiger sind als eine schulmedizinische Behandlung. Der Bundesverband der Innungskrankenkassen (IKK) hat deshalb bei der Uni Freiburg eine Studie in Auftrag gegeben, die unter anderem Heilerfolge bei Akupunkturpatienten untersuchen sollte. Neun von zehn Erkrankten beteiligten sich an dem Modellversuch, weil ihre bisherigen Therapien erfolglos verlaufen waren. Nach Abschluß der Akupunkturbehandlung gaben 81 Prozent der 1.500 Patienten an, daß die Schmerzen entweder verschwunden seien oder sich gebessert hätten. Quintessenz der IKK-Untersuchung: die Akupunktur sollte Leistungsbestandteil der gesetzlichen Krankenkassen werden. Esther Kogelboom