HIV-kompatible Wege ins Arbeitsleben

■ Nachdem Aids zu einer behandelbaren Krankheit geworden ist, werden in Deutschland die ersten Programme gestartet, die Aids-Kranken einen beruflichen Neuanfang ermöglichen sollen

Im September 1997 feierte er seinen statistischen Todestag. Stefan war 40 geworden und hatte damit solange gelebt, wie ein Aidspatient früher durchschnittlich zu leben hatte. Doch anstatt dem Tode geweiht zu sein, war er gerade wieder zu neuen Ufern aufgebrochen: Seit er sich der Kombinationstherapie – also der Einahme von Protease- und Reverse-Transkriptase- Hemmer – unterzieht und mehrmals täglich Tabletten schluckt, sind seine schon weit fortgeschrittenen Aids-Symptome nicht mehr aufgetaucht. Statt mit Erkrankungen muß er jetzt „nur“ mit den Nebenwirkungen leben, die allerdings von Sodbrennen bis zu Taubheitsgefühlen, Konzentrationsschwierigkeiten und Brechreiz reichen.

Seinen letzten Job hat Stefan geschmissen, als es ihm zu anstrengend wurde, und er jeden Abend total erledigt war. Den Rest seines Lebens zu Hause Fernsehmagazine wälzen, will er aber auch nicht. Statt dessen versucht er mit Gleichgesinnten HIV-kompatible (Rück-)wege ins Arbeitsleben zu finden. 23 Leute kommen seit drei Wochen jeden Morgen in den Räumen der Berliner Schwulenberatung „kursiv“ zusammen – zu einem „Qualifizierungsseminar“ für Leute, die HIV-positiv sind.

Zwölf Wochen lang wird Seminarleiter Michael Kalter mit ihnen Wege für einen möglichen Neueinstieg ins Arbeitsleben suchen. Sozialrecht und Situationsanalyse stehen ebenso auf dem Programm wie konkrete Schritte auf dem Weg in den Arbeitsmarkt: Jeweils drei Tage Streß- und Bewerbungstraining, eine Woche EDV-Schulung, zwei Wochen Praktikum.

Der Enthusiasmus unter den Teilnehmern ist enorm. „Wir sind eine Supergruppe“, schwärmt Annika, die seit dem Beginn ihrer Drogenkarriere vor 18 Jahren nicht mehr regelmäßig gearbeitet hat. Damals war sie Kranführerin – ein Job, der für jemanden, der sich dem strengen Regime von Substitution und Aidstherapie unterwerfen muß, wohl nicht mehr in Frage kommt. Mit dem Seminar will sie vor allem ihre Belastbarkeit testen. Wenn es gutgeht, will sie sich nach einem Bürojob umsehen und ihrem Rentnerdasein mit 46 Jahren ein Ende setzen. Die meisten Seminarteilnehmer beziehen seit Jahren Rente, die allerdings bei allen vorne und hinten nicht reicht. Dazu komme das psychologische Problem, erzählt Stefan: „Ich habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, Rentner zu sein. Es ist schon schlimm genug, mich als Schwerbehinderter vorzustellen.“ Alle Teilnehmer sind seit nicht allzulanger Zeit mit einer völlig neuen Lebensituation konfrontiert. „Jeder von uns hatte das ,Hoppla, ich lebe noch‘-Erlebnis“, sagt Stefan, „und jetzt plötzlich wieder zu planen ist unglaublich schwierig. Dazu kommt, daß keiner von uns genau weiß, ob wir nicht irgendwann an den Nebenwirkungen zugrunde gehen.“

Seit Aids zwar nicht zu einer heilbaren, aber zu einer behandelbaren Krankheit geworden ist, ist der Bedarf an neuen Initiativen groß. Auch in Hamburg, Bielefeld und Essen sind die ersten Qualifizierungsseminare angelaufen. Von dem Berliner Projekt unterscheidet sie vor allem eines: Ihre Finanzierung ist gesichert. Nachdem die Berliner Arbeitsverwaltung zunächst Zustimmung signalisiert hatte, kam am dritten Tag des Seminars vor zwei Wochen der Paukenschlag: Vorerst gibt es kein Geld. Der nächste Antrag kann erst im Oktober gestellt werden.

Ans Aufgeben denkt man hier jedoch keinesfalls, sondern sucht statt dessen nach Wegen, das Projekt zunächst ohne staatliche Mittel zu finanzieren. Ein Kursteilnehmer postierte sich mit einer Polaroid-Kamera auf dem Kurfürstendamm, um mit dem Verkauf von Fotos die leere Kasse des Vereins wenigstens ein bißchen aufzufüllen. Außerdem bemüht man sich, Sponsoren zu finden. Eine Idee war, Pharmafirmen in die Pflicht zu nehmen. Es läge auch nahe, sich einmal an die Rentenversicherungsträger zu wenden. Denn die wissen im Gegensatz zur Berliner Arbeitsverwaltung, wo der Hase langläuft: Schon längst wurden die ersten Positiven und Kranken schriftlich gefragt, ob sie nicht statt einer 610-Mark-Tätigkeit wieder einer vollen Stelle nachgehen könnten. Dann hätte sich der Rentenanspruch erledigt. Jeannette Goddar

Aids und Arbeit, kursiv e.V., Mommsenstraße 45, 10629 Berlin, Tel.: 32703040