Labile Zuversicht

Wer Stücke schreibt, ist meist männlich und metropolitan. Tun oder nicht tun ist bei vielen die Frage. Aus der Rede zu den 4. Autorentheatertagen Hannover  ■ Von Petra Kohse

Im Anfang sind die Kriterien. Inhaltliche sollten es nicht sein. Wie Parasitenfische den Hai, umschwirren schließlich die Kunstgewerbler die Kunst, und wenn man ausschriebe: „Allegorische Stücke mit drei Kinderrollen gesucht, gerne Bezüge zum 14. Jahrhundert“, würden die Ost- West-Sozialdramen oder psychologischen Beziehungsstücke eben entsprechend umgefummelt. Lieber keine inhaltlichen Kriterien also, sondern nur formale.

In 1997 sollten die Stücke entstanden sein, und verfaßt von Autorinnen und Autoren, die nicht älter sind als 35 Jahre. Ja, wie man denn da als reiferer Mensch auch noch zum Zuge kommen könne, rief mich eine Dame an, und ich hatte ihr leider nichts Tröstliches zu sagen. Denn ich halte das Drama für eine Gattung der Jugend, man verfällt darauf, sobald einem das Gedichteschreiben peinlich geworden ist, und da ist die Altersgrenze für Neueinsteiger doch wahrlich nicht knapp bemessen. Die Einschränkung der Entstehungszeit war einerseits Neugier, andererseits eine Folgebedingung. Denn sonst wäre das Erstlingsstück eines heute 60jährigen von 1973 auch im Programm gewesen und hätte gelesen werden wollen. Und der Andrang war auch ohnedies schon groß genug.

Man muß sich die Ausgangssituation trotz ihres schmeichelhaften Anscheins unbedingt als eine zwiespältige vorstellen. Plötzlich stapelt sich Großformatiges auf dem Schreibtisch, bis die Kollegen fast nicht mehr zu sehen sind, und auch nach Ablauf der Einsendefrist nimmt der Zustrom der Stücke zunächst nur unerheblich ab. Eine Zeitlang beginnst du jeden Arbeitstag mit freundlichen Rücksendungen, Ordnung muß ja sein, und portionsweise schleppst du die Fracht nach Hause, ins Zwischenlager Zimmerecke.

Und dann kommt irgendwann das Wochenende, an dem du mit der Lektüre beginnen willst. Du sitzt auf dem Fußboden, und hundert Texte schmiegen sich an dich und lassen ihre Begleitbriefe schnurren, und bist entschlossen, dir alle hundert wieder vom Halse zu schaffen, wenn sie nicht dein Herz erreichen, ohne sich ganz zu offenbaren. Denn warum sollte man, was sich schon beim Lesen erschließt, auch noch auf die Bühne bringen?

Du blickst also auf die Stapel und weißt, daß du dich in jedem Fall schlecht fühlen wirst. Weil natürlich etwas in dir hofft, das Selbstgetippte in toto in den Papierkorb befördern zu können, um deine jahrelange Ignoranz gegenüber neuer Dramatik nicht ins Unrecht zu setzen. Und etwas anderes hofft, daß du das superinteressante Wahnsinnsstück aufspüren wirst. Um die Veranstalter des Wettbewerbs nicht zu enttäuschen. Und natürlich auch, damit sich Glanz vom Glanze auf dem eigenen Haupte sammle. Aber da ist noch etwas Drittes, etwas auf fast kindliche Weise einfach nur Gespanntes. Und das ist der Bruce Willis in dir, und wenn der dabei ist, kannst du anfangen zu lesen.

Nach Abzug ungültiger Beiträge hatten sich beworben: neunzig Autoren mit zweiundneunzig Stücken, darunter nur achtzehn Frauen. Neunundzwanzig der Einsendungen kamen aus Berlin. Der deutsche Stückeschreiber, so scheint es, ist männlich und metropolitan. Er schreibt über Familie und Beruf, Obdach- und Erwerbslosigkeit, er schreibt über Gewalt, Drogen und Berlin, und ein bißchen schreibt er oder sie auch über Beziehungen.

Kein Zweifel: Das Soziale steht als Thema hoch im Kurs. Gegenwartsbezogene Miteinander- leben-Stücke, ob in Form der Groteske, der Klamotte oder der Handlungsdramatik. Natürlich waren auch Sprachspiele dabei, mehr oder minder pubertär, Phantastereien, Sinnsucherstücke und klappernde Versuche zum philosophischen Diskurs. Eindeutig jedoch dominierte die Alltagsbewältigung. Wenig Poetisches, kaum Historienbearbeitung, etwas Boulevard. Viermal immerhin kam Zeitgeschichte vor, durch prominente Persönlichkeiten repräsentiert oder gleich von ihnen handelnd.

In einer meist konventionell- realistischen, ganz selten popkulturell geprägten Sprache wird Leben verhandelt, wie es erscheint: einsam, grausam und vorübergehend. Oder auch typenreich bevölkert, schwatzhaft und albern. In beiden Fällen aber ist das Leben meist das falsche. Optimismus gehört nicht zu den vorherrschenden Stimmungen unter den deutschen Stückeschreibern und -schreiberinnen. Vielmehr wabert ein diffuses Unfrohsein, das sich durch einen Trotzdem-Humor oder das Zurechtpusseln von Handlungssträngen abreagiert, statt sprachlich Erlösung zu suchen.

Stilistisch ist das alles eher unspektakulär. Neben Prätention und schierem Unvermögen gibt es vor allem Okaysprache, die vorne anfängt, hinten wieder aufhört und in der Mitte möglichst wenig stört. Zwei mundartlich inspirierte Stücke gehörten zu den anspruchsvolleren Einsendungen.

Überraschend war, wie viele Dramen einen routinierten und rundum aufführbaren Eindruck machten und doch von einer seltsamen Aura des Nichtauffallenwollens umgeben waren. Vielleicht auch des Nichtauffallenkönnens. Versatzstückwelten voller Figuren, die ins Allgemeine drängen und sich vielleicht schon morgen in einem Fernsehspiel oder in der Welt der rechtsdrehenden Joghurtkulturen ansiedeln werden – wer kann das wissen.

Man liest, was sie sagen, fühlt sich an etwas erinnert, aber noch beim Nachdenken vergißt man die ganze Sache wieder. Windschlüpfrige Stücke, mit denen die Verfasser sich unter ihrem Thema wegducken, auf denen sie sicher durchs Gewerbe kreuzen und immerzu mit jemand anderem verwechselt werden können. Stücke wie Sachbearbeiter, nein, wie Sachwalter vielleicht, denn auch das ist offenbar ihre Funktion: soziale Bedrängnisse für sich rechtzeitig wegzuorganisieren, bevor sie an der eigenen Türe klopfen.

Inmitten soviel Allgemeinheit erfreut das Spezielle besonders. Das Blatt mit der Buntstiftzeichnung, das einer Einsendung beiliegt, oder der wirklich abgrundtief dilettantische Pennälerkram, den man ungläubig Satz für Satz zu Ende liest. Und nicht zu vergessen der eine oder andere begabte Versuch an einem leider allzu schnell erschöpften Thema, oder auch das hochinteressante Lesestück, das auf der Bühne aber nicht und niemals interessieren würde. All das kommt vorbei im Laufe einiger Wochen, und fast mit Bedauern beobachtet man, wie der Stapel im Zwischenlager kleiner wird, der im Endlager wächst und sich auch auf dem Platz für höchstinteressante Angelegenheiten Stück für Stück einfindet. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier – vier Stücke waren dabei, deren Sprachkraft sofort einleuchtete und die jedes auf seine Art etwas im Schilde führen, das sich auch beim wiederholten Lesen nicht gänzlich durchschauen ließ. Vier Stücke also, die etwas vorlegen, auf daß das Theater nachziehen möge.

In „Herr Krampas: auftauchend“ von Steffen Kopetzky kommt die Hauptfigur nur in der zweiten und dritten Person vor. Drei Monologe halten sich verschränkt an den Händen und berichten von einem Geschehen, das, einer rätselhaften Traumdramaturgie folgend, dennoch vor allem dadurch beunruhigt, daß beständig seine Normalität betont wird.

Einem wird ein Schlüssel durch den Briefschlitz geworfen. Er macht sich auf und durchquert bei sommerlicher Hitze die Stadt, um zu dem Haus zu gelangen, das zu dem Schlüssel paßt. Er findet es und tritt ein. Er macht Beobachtungen, und man weiß nie, ob sie einem Wahn oder der dramatischen Wirklichkeit zuzurechnen sind, ob dieser eine vielleicht immerzu sich selbst begegnet und wenn ja, dann wann und wo? Ein kontrastierend heiterer, gleichwohl insistierender Ton liegt über diesen Beschreibungen, eine labile Zuversicht, um die man ständig fürchtet. Zu Recht, denn der, von dem die drei Sprecher erzählen, schlittert am Rande einer Zeitschleife entlang, und genau in dem Moment, in dem er glaubt, sich gerettet zu haben, fällt er hinein.

Weniger vertrackt, doch ebenfalls mit Schnittstellen zur Rätselwelt geht „Tiefseefische“ von Roland Spranger vor. Von vier Personen wird erzählt, die Dinge tun. Anne verbringt einige Monate im Schrank und kommuniziert mit ihrem Freund Nico nur über Video. Nico akzeptiert das, wie er alles akzeptiert, was das Leben an ihn heranschwemmt, und nur wenn er einen Traum kommen sieht, rudert er schnell weg. Mike dafür setzt sich ausschließlich in die Richtung von Träumen in Bewegung, sehr zum Ärger seiner Freundin Britt. Angenehm offen bleiben die Beziehungen dieser vier Figuren zueinander und zum Leben selbst, ganz ernsthaft, aber nicht besserwisserisch arbeitet Spranger ein Lob des Augenblicks heraus und zeigt, daß es schöner sei, etwas ganz Kleines zu tun, als sich eine Menge zu denken.

Tun oder nicht tun – das ist auch in Detlef Schulzes Stück die Frage. „Der Aufbruch Phineus“ kontrastiert Reflexionen wiedergängerischer Figuren aus der Antike mit den Existenzfragen von DDR- Bürgern unmittelbar nach dem Mauerfall. Eine Frau wird ihren Mann verlassen oder auch nicht, ein Stasi-Mann hat Angst. Während in anderen Beiträgen zu dieser Zeit das Ablachen über die Revolution der Kleinbürger dominiert, läßt Schulze seine Figuren innehalten zu Zeiten des Mitmarschierens und läßt sie einen Blick zurück werfen, ob in Klarheit oder Verblendung bleibt offen. Sprachlich unüberhörbar von Heiner Müller beeinflußt, setzt er dessen Vorstellung vom alles mit sich reißenden Mahlstrom der Geschichte das Individuum entgegen: als Tier, das sich entscheiden kann.

Eher mit dem Allgemeinmenschlichen befaßt ist schließlich Rolf Kemnitzers „Herzkasperle“. Ein liebevoll-witziges Dialogstück für Oma und Enkel, kratzbürstig mit der Rührseligkeit kämpfend und tatsächlich über sie siegend.

Wenn eine Jury über ihre Auswahl spricht, beispielsweise die Theatertreffenjury jedes Jahr, dann heißt es stets: Die Auswahl hätte auch ganz anders aussehen können. Meine Auswahl hätte nicht anders aussehen können. Diese vier Stücke mußten es sein. Es sind vier Bekenntnisse zur Gegenwart. Sie handeln von Zuständen und daß man vielleicht etwas daraus machen kann. Kein: So ist das Leben. Aber ein: So könnte es sich anfühlen, jetzt gerade, im Moment.

Petra Kohse ist die Jurorin der 4. Autorentheatertage Hannover, die gestern begonnen haben. Die vier ausgewählten Stücke werden am 16.5. in Werkstattinszenierungen einmalig aufgeführt: ab 19 Uhr im Ballhof Hannover