■ Demokratie unter Druck: Parteien und Wähler entfremden sich. Wichtige Debatten werden strategischen Überlegungen untergeordnet
: Wissen, was gut ist fürs Volk

Demokratie ist, wenn eine Regierung mit der Mehrheit der Stimmen gewählt und eine andere an ihre Stelle gesetzt werden kann. Bis zu den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt schien dieser Aspekt von Demokratie der einzige zu sein, der im Wahlkampf eine Rolle spielte – allerdings eine ungewöhnlich große. Umfragen zeigen, daß viele Wählerinnen und Wähler einen Wechsel an der Spitze nach 16 Jahren Kanzlerschaft von Helmut Kohl bereits für einen Wert an sich halten. Sie wünschen sich auch dann eine neue Regierung, wenn sie glauben, daß diese nichts grundlegend anders oder besser machen könne als die bisherige.

Demgegenüber sind andere Aspekte von Demokratie und ihren Grenzen bislang in der öffentlichen Auseinandersetzung fast vollständig in den Hintergrund getreten. Daran hat die Tatsache nichts geändert, daß sie im Augenblick faktisch an Bedeutung gewinnen. Das gilt sowohl für die Auswirkungen der europäischen Integration als auch für Grundrechtseinschränkungen oder die klassische Diskussion um die Ausgestaltung der Inneren Sicherheit. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Der sensationelle Erfolg der DVU in Sachsen-Anhalt hat zwar nun den Begriff der Demokratie in den Vordergrund gerückt, aber ohne daß dieser Begriff inhaltlich gefüllt würde. Vom notwendigen Zusammenstehen der Demokraten ist jetzt oft die Rede. Wofür oder wogegen sie zusammenstehen sollen, scheint den Verfassern der Appelle eine überflüssige Frage zu sein.

Die SPD zieht aus der oben erwähnten Grundstimmung in weiten Teilen der Bevölkerung den größten Nutzen. So lange ein Regierungswechsel als solcher für ein wünschenswertes Ziel gehalten wird, so lange kann sie auf dem Feld der Demokratie durch ihre bloße Präsenz Pluspunkte sammeln, ohne sich in diesem Bereich inhaltlich festlegen zu müssen. Sie wird sich dieses Vorteils durch eine Konkretisierung der Debatte kaum begeben wollen.

Die Unionsparteien haben sich noch nie darum bemüht, mit Werbung für mehr Demokratie Stimmen zu sammeln. Für eine angstbesetzte Gegenkampagne, in der für einen strafenden Staat geworben und gegen eine angeblich permissive Gesellschaft ins Feld gezogen wird, haben sie im SPD-Kanzlerkandidaten Schröder einen schwierigen Sparringspartner. Der hat mit Blick auf den kleinbürgerlichen, strukturkonservativen Teil seiner Klientel da bereits Positionen besetzt, die sich nur noch schwer übertreffen lassen. Dennoch zeichnet sich ab, daß die Union nach dem Erfolg der DVU im rechten Lager Stimmen fangen will. Der Auseinandersetzung mit neuen Herausforderungen für die Demokratie wird das schaden.

Die Bündnisgrünen sind früher stets mit Themen in die Offensive gegangen, die im Zusammenhang mit Demokratie gestanden haben. Der Schock über die vernichtende Resonanz auf ihren Benzinpreisbeschluß hat ihnen aber die Erkenntnis beschert, daß die kommenden Wahlen angesichts sich zuspitzender Verteilungskämpfe mit wirtschaftspolitischen Themen entschieden werden. Da sie dort Terrain verloren haben, werden sie sich hüten, weitere Reizthemen in den Wahlkampf einzuführen. Sie scheuen den Vorwurf, nicht zu verstehen, was die Wähler wirklich bewegt. Dabei merken sie nicht, daß sich im konkreten Einzelfall die Bevölkerung sehr wohl dafür interessiert, ob ihre demokratischen Rechte gewahrt bleiben. Die Bündnisgrünen verpassen eine Chance.

Die FDP hat sich schon vor längerer Zeit von ihrem Profil als Bürgerrechtspartei zugunsten wirtschaftspolitischer Themen verabschiedet. Jede Revision dieser Entwicklung ließe den Verdacht keimen, die Partei schiele angesichts der desolaten Lage der Union insgeheim doch auf die Möglichkeit einer sozialliberalen Koalition. Gegenwärtig scheint ohnehin kaum mehr als das Stammwählerpotential einen triftigen Grund dafür finden zu können, ausgerechnet FDP zu wählen. Ein Ruf als wackeliger Bündnispartner dürfte die Chancen auf einen neuerlichen Einzug ins Parlament kaum verbessern.

So unterschiedlich die Ausgangspositionen der verschiedenen Parteien auch sind, das Ergebnis bleibt stets dasselbe: Defizite der Demokratie und ihre neuen Herausforderungen werden nicht öffentlich diskutiert. Strategisch nachvollziehbar sind die oben aufgeführten Beweggründe ohnehin nur mit dem starren Blick nach Westen. Das Wählerverhalten in den neuen Bundesländern folgt nicht den eingefahrenen Geleisen, siehe Sachsen-Anhalt.

Nach der deutschen Vereinigung stand das Thema Demokratie nie auf der Tagesordnung. Es wurde als gegeben vorausgesetzt. Unerörtert blieb, was die Bevölkerung der alten und der neuen Länder eigentlich unter Demokratie versteht. Allein die Frage, ob der Westen vielleicht auch etwas vom Osten lernen könnte, wäre Häresie gewesen.

Stur und uneinsichtig bleiben die Großen jetzt auf Kurs: Der platten Gleichsetzung von PDS und DVU, die die Union propagiert, wagt die West-SPD nicht zu widersprechen. Das dürfte eine steigende Zahl von Wählern im Osten den etablierten Altparteien entfremden, die diese Kampagne auch dann für diffamierend halten, wenn sie nicht selbst Anhänger der PDS sind. Zusätzlich verschärft wird die Situation dadurch, daß vielen Politikern fraktionsübergreifend das demokratische Bewußtsein allmählich abhanden zu kommen scheint. Die Begleitumstände der Einführung des Euro sind dafür ein gutes Beispiel. Die Bevölkerung, die der neuen Währung mehrheitlich skeptisch gegenübersteht, ist ganz einfach nicht gefragt worden. Für die weitaus meisten Parlamentarier reichte es, daß sie zu wissen glauben, was gut ist fürs Volk. Mag sein, daß sie recht haben. Die Arroganz derjenigen, die über den vermeintlich besseren Durchblick verfügen, wird sich dennoch rächen.

Die Annahme, Wahlen seien für alle Zukunft ein Nullsummenspiel zwischen demokratischen Parteien, ist irrational. Unter den Wählern der DVU in Sachsen-Anhalt waren viele, die es „denen da oben“ einfach mal zeigen wollten. Diese haben gegen die Mächtigen, nicht für die Rechtsextremisten gestimmt. Einem Protest, der sich gegen die Behandlung der Bevölkerung als ahnungsloses Stimmvieh richtet, wohnt durchaus ein demokratisches Element inne – auch wenn er sich in Unterstützung für eine undemokratische Partei äußert. An dieses Element lassen die etablierten Parteien sich nicht gern erinnern. Bettina Gaus