■ Nebensachen aus Washington
: Unsere kleine Straße

„Aber er hat schöne Möbel“, sagte meine Frau, als spräche das für den Mann, den sie argwöhnisch beobachtet. Dieser Mann steht meist an der Straßenecke und wartet. Dann kommen junge Leute vorgefahren und gehen mit ihm ins Haus. „Haben wir da vielleicht einen Crack-Dealer zum Nachbarn bekommen?“ „Ach was“, sagte ich, „das gehört noch zum Umzug. Die bringen was, oder vielleicht wollen sie sehen, wie er jetzt wohnt.“ Allerdings scheint er keine Familie zu haben. „Der schwarze ledige Mann“, geht es mir durch den Kopf, und daß nach Erkenntnissen der Soziologen gerade von ihm die größte Gefahr ausgeht.

Das war letzte Woche. Diese Woche zog ein paar Häuser weiter eine schwarze Familie mit zwei Kindern ein. „Die sehen doch ganz nett aus“, findet meine Frau. Aber sind die nicht genau in dem Alter, in dem sie meistens Schwierigkeiten machen? Ich ahne schon Territorialkämpfe mit den Kids, die drei Straßen weiter leben.

Im Laufe von nur einer Woche scheint sich unsere kleine Straße unwiderruflich verändert zu haben. Das prekäre Gleichgewicht zwischen Schwarz und Weiß scheint endgültig dahin zu sein. Wir ertappen uns bei Gedanken, die wir nie denken wollten, bei Ängsten, von denen wir glaubten, sie nie haben zu müssen. Meine Frau wollte ja eigentlich im Grünen wohnen. „Ich ziehe in keine Vorstadt“, sagte ich, „dort kann ich als Korrespondent nicht wohnen. Viel zu langer Weg in die Stadt. Ich muß unter Leute.“ Capitol Hill, dachte ich, wäre ein Kompromiß. Ein Viertel mit Backsteinarchitektur aus der Jahrhundertwende, schattigen Alleen und blumigen Vorgärten. Und doch nur ein paar Schritte bis zum Bus oder zur U-Bahn. Kleinstadt mitten in der City.

Als wir dann einzogen, prangte ein Zettel am Baum gegenüber. Er warnte vor einer Schwangeren, die mit einem Kissen unterm Kleid Leuten erklärt, daß sie dringend ins Krankenhaus müsse, sie aber kein Geld für ein Taxi habe. Und am Eastern Market warnte ein Flugblatt vor dem Radfahrer, der Frauen die Taschen aus den Händen reißt und dann abhaut.

Amerikanische Großstädte sind ein Archipel: Inseln der Sicherheit in einem Meer von Gefahren. Nachbarn erklären die Geographie. Der Abschnitt 13. Straße zwischen Independance und Massachusetts Avenue ist sicher, östlich von East Capitol und die Gegend südlich der 15. Straße nicht. Lincoln Park ist wegen der vielen Hunde, die da ausgeführt werden, ziemlich sicher. Eine Künstlerin, die drei Straßen weiter wohnt, kommt nur im Auto zu uns. Tagsüber kann man bis Safeway zu Fuß gehen, nachts lieber nicht. Wer abends von der U- Bahn kommt, geht sehr schnell oder wird abgeholt.

Gestern Abend kamen wir von der U-Bahn. Kein Taxi, hatte ich beschlossen, bange machen gilt nicht. Und da saß doch tatsächlich im kleinen Park an der Ecke ein Liebespaar in lauer Luft. Die Tuncliff Tavern hatte Stühle aufs Trottoir gestellt. Am Lincoln Park plauderten drei junge weiße Frauen mit den Street-Kids aus der 15. Auf der 13. kam uns unsere Katze entgegen. Um Gottes willen, ich muß die Hintertür aufgelassen haben. Heute morgen streckt der Kirschbaum seine blühenden Äste durch mein Arbeitszimmerfenster.

Der Mann gegenüber lebt gar nicht allein, seine Frau kehrt Treppe und Bürgersteig. Und die schwarzen Kids gehen pünktlich zur Schule. Alles ordentliche Leute! Es ist Frühling. Unsere kleine Straße ist ein Blütenmeer. Peter Tautfest