„Heilige Mutter von Afrika, bete für uns“

In der letzten katholischen Kirche Algiers können die Besucher mit Pater Henri reden, ohne daß ihnen jemand den Mund verbietet. Diese Gespräche erhalten in ihm den Glauben, daß Algerien einen Weg aus der Krise findet  ■ Aus Algier Reiner Wandler

Tag für Tag öffnet Pater Henri sein Kabuff im Eingangsbereich der Basilika Notre Dame d'Afrique. Der Alte vom Orden der Weißen Väter ist Priester in der letzten katholischen Kirche Algiers, hoch oben auf einem riesigen Felsvorsprung über der Stadt. „Zwei Jahre bin ich jetzt schon hier“, sagt Pater Henri und zeigt dabei auf eine Reihe von Fotos, die die Glastür zwischen Eingangsbereich und Kirchenschiff zieren. „Unsere Märtyrer“, stammelt der Alte mit leiser Stimme und gesenktem Kopf. Einer der dort abgebildeten 19 Priester und Nonnen ist Pater Henris Vorgänger. Nach ein paar Sekunden fängt sich der Alte wieder. Angst, ja Angst habe er schon, gesteht der 77jährige ehemalige Universitätsprofessor für Philosophie. „Doch ich fühle mich hier besser aufgehoben als in einem Altersheim meines Ordens in Paris.“ Sein Lächeln wirkt ehrlich. Hier habe er wenigstens das Gefühl, gebraucht zu werden. „Vielleicht kann ich ja meinen bescheidenen Teil zur Verständigung zwischen christlicher und muslimischer Welt beitragen.“

Seit die Drahtseilbahn stillgelegt wurde, die einst die Sonntagsausflügler von der Uferstraße zum beliebten Aussichtspunkt beförderte, gibt es nur noch einen Weg herauf zur kachelverzierten Sandsteinbasilika: die enge kurvige Straße durch einen Ausläufer des Stadtteils Bab el Oued. Als chaud – heiß – bezeichnet der Geleitschutz das einstige Viertel der pieds-noirs, der französischen Kolonisten, heute eine Hochburg der Islamisten.

Bevor die rasante Fahrt beginnt, werden unten an der ständig von einem Schützenpanzer bewachten Kreuzung drei Begleitfahrzeuge der Polizei angeheuert. Die Blicke der Jugendlichen, die, vom Hupkonzert des Konvois aufgeschreckt, zur Seite springen, verraten die unangenehmen Erinnerungen, die die Spezialeinheiten mit blauen Overalls, halboffenen Turnschuhen, verspiegelten Sonnenbrillen und lässig aus den Fenstern gestreckten Kalaschnikows in ihnen wachrufen. Ninjas nennen sie die durchtrainierten Beamten hier. Ihre Spezialität: Razzien mit vermummten Gesichtern. Mißhandlungen, ja selbst Massenerschießungen werfen Menschenrechtsanwälte ihnen vor.

Der alte Pförtner in braunem Wollumhang und weißem Turban döst auf seinem Stuhl neben der schweren hölzernen Eingangstür zur Kirche. Ein Pärchen genießt verträumt den Ausblick über die Bucht. „Algier die Weiße“, nennen die Einheimischen ihre Stadt liebevoll. Direkt unter der Brüstung, am Fuße des Steilhangs, erstreckt sich ein Friedhof. Fein säuberlich abgetrennt sind drei Teile auszumachen. Rechts die christlichen Gräber, links die jüdischen und in der Mitte die letzten Ruhestätten der Märtyrer des Unabhängigkeitskrieges gegen Frankreich.

Ein Stückchen weiter, direkt am Ufer des Mittelmeeres, liegt das Stadion des örtlichen Erstligisten USMA. Wie Ameisen wuseln die trainierenden Spieler über das Grün zwischen den menschenleeren Rängen. Auf der Bucht liegen große Handelsschiffe vor Anker. Der warme Wind vom Meer bringt den Duft von Zypressen herauf. Schafe grasen die Böschung ab. Eine laut tobende Horde Kinder jagt, umgeben von aufgewirbeltem Staub, im mächtigen Schatten der Basilika einem stark abgenutzten Fußball nach. Ein Mädchen im Vorschulalter und ihr kleinerer Bruder albern mit dem Chef der zwanzigköpfigen Polizeitruppe herum, die rund um die Uhr Kirche und Vorplatz bewacht. Weder das Gewehr noch das ständige Gequäke aus dem Sprechfunkgerät stören die Kleinen. Sie haben nie etwas anderes kennengelernt.

Pater Henri brütet im Halbdunkel des kleinen Raumes gleich neben dem Eingang über einem tragbaren Computer. Er schreibt einmal mehr an einer Abhandlung über die Urreligionen in Schwarzafrika, wo er einen Großteil seines Missionarslebens verbracht hat. „Damit vertreibe ich mir die Zeit, wenn ich keine Besucher empfange“, sagt der Alte und lächelt zufrieden.

Immer mehr Menschen aus den umliegenden Stadtteilen finden den Weg herauf zu Pater Henri auf der Suche nach Rat: Jugendliche, die nach jahrelanger Arbeitslosigkeit einfach nicht mehr weiterwissen, alte Menschen, die mit ihrer Rente nicht über die Runden kommen, Frauen, die ihm ihr Leid über die viel zu hohen Lebensmittelpreise klagen. Für den Geistlichen, der aus Sicherheitsgründen nur selten die Kirche und die anliegende Residenz verläßt, sind diese Gespräche wie ein Thermometer dessen, was in Algerien passiert. „Immer mehr ganz einfache Frauen kommen zu mir, um über das auf dem Koran beruhende Familiengesetz zu schimpfen, das sie völlig entmündigt“, sagt Pater Henri. „Alles Menschen, die einfach nur reden wollen, ohne daß ihnen jemand den Mund verbietet“, so beschreibt er seine Besucher. An der christlichen Religion hätten sie kein Interesse. Für sie sei das Gespräch mit dem Pater vielmehr der Gedankenaustausch mit einem Europäer.

Die von den Weißen Vätern einst betreute christliche Gemeinde ist längst zusammengeschrumpft. Viele christliche Familien, die meisten pieds-noirs, verließen das Land nach der Unabhängigkeit 1962. Die meisten der Europäer, die weiterhin in Algerien lebten, packten ihr Bündel spätestens nach den ersten Morden an Ausländern 1994. Seither versammelt sich nur noch ein kleines Häufchen von Gläubigen jeden Freitag, am Festtag der Muslime, zur Messe in der Basilika. Hochzeitsfeiern oder gar Taufen sind sehr selten geworden. Fast alle Kirchgänger sind alleinstehende junge Männer aus Zentralafrika.

„Die sind auf der Suche nach einem Weg ins vermeintliche Eldorado Europa hier hängengeblieben“, weiß der einzige weiße Kirchgänger zu berichten. Der untersetzte Franzose nennt nur sein Alter, 57 Jahre. Seinen Namen und den des Großbetriebes, in dessen Auftrag er vor fünf Jahren, als die meisten Ausländer ihre Zelte abbrachen, nach Algier kam, behält er lieber für sich. „Ich habe in der Zeit hier eines gelernt: Der algerische Konflikt ist nicht schwarz- weiß, sondern hat viele Zwischentöne, die die Presse in Europa gar nicht wahrnimmt“, sagt er. Er glaubt an eine bessere Zukunft des zerrissenen Landes. „Die Leute haben nicht die Islamische Heilsfront gewählt, weil sie über Nacht alle zu Islamisten wurden, sondern aus Protest gegen den korrupten Staat, den die ehemalige Einheitspartei FLN hinterlassen hat.“

Die neuen Machthaber unter Präsident Liamine Zéroual seien auf dem besten Weg, das Land zu modernisieren und damit zu befrieden. „Deshalb ist es wichtig, hier zu investieren und nicht etwa nach Marokko oder Tunesien auszuweichen“, beschreibt der Franzose mit südlichem Akzent die Geschäftsphilosophie seines ungenannten Unternehmens, bevor er zusammen mit drei durchtrainierten Jungs mit dunklen Sonnenbrillen in einem gepanzerten schwarzen Peugeot, der vor der Kirche auf ihn wartet, die Fahrt hinunter in die Stadt antritt, um in seinem Stammrestaurant Bier zu trinken. Frühschoppen, als wäre er in seinem Heimatort im Massiv Central.

Pater Henri ist nicht so optimistisch. „Algerien ist schwer krank“, lautet sein Befund. „Präsident Zéroual und die Armee verkaufen uns ihren Kampf als fortschrittlich, der Modernität zugewandt“, sagt der Grauhaarige. Doch in Wirklichkeit stünden sie für die gleiche korrupte Machtelite, die Algerien seit der Unabhängigkeit von Frankreich regierte. Es gehe ihnen nur darum, um jeden Preis an der Macht und damit an den Quellen des Reichtums zu bleiben. Gegen die Bestrebungen der Demokraten habe die Machtelite „das Land zunehmend ideologisch abgeschottet“. Die Stimme des Paters wirkt plötzlich fester und stärker. Der sanfte Unterton des Seelsorgers ist verschwunden.

„Die Einheitspartei FLN hat mit ihrer in den siebziger Jahren begonnenen Politik der Arabisierung und Islamisierung der Gesellschaft den Islamismus selbst heraufbeschworen“, sagt Pater Henri zu den Ursachen der Krise. „Würden mich hier oben nicht Menschen aus einfachen Verhältnissen aufsuchen und mir ihre Nöte und Sorgen mitteilen, hätte ich den Glauben längst verloren, daß Algerien einen Weg aus der Krise findet“, gesteht der Alte ein. „Diese Menschen suchen nach einem Weg zu einer moderneren, freieren Gesellschaft und nach einem gelösteren Verhältnis zur Religion.“

Vorn in der ersten Reihe haben sich derweil zwei Jungs niedergelassen. „Die sind gekommen, um Ruhe zu finden und einfach mal tief durchzuatmen“, sagt der Pater, zufrieden mit sich und seiner Arbeit. Die beiden unterhalten sich im Flüsterton. Einer zeigt auf die Inschrift, die die Kuppel über dem Altar krönt: „Notre Dame d'Afrique, bitte für uns und die Muslime!“ steht da zu lesen. Plötzlich dringt von draußen die Stimme des Muezzin einer nahe gelegenen Moschee herein. Der alte Pförtner entledigt sich seiner Schuhe, kramt unter seinem Stuhl einen kleinen Teppich hervor, rollt ihn sorgsam auf dem obersten Treppenabsatz aus. Und verbeugt sich im Gebet Richtung Mekka.