In Ungarn ist nach dem ersten Wahlgang noch alles offen

■ Bei den Parlamentswahlen verlieren die Sozialisten leicht, die Nationalkonservativen legen dagegen massiv zu. Erstmals überspringt auch eine rechtsextreme Partei die Fünfprozenthürde

Budapest (taz) – Der ungarische Ministerpräsident Gyula Horn sah sich und seine Sozialistische Partei als Wahlgewinner. Der Chef der Jungdemokraten hingegen, Viktor Orban, interpretierte das Wahlergebnis als eindeutiges Votum für eine neue Regierungsmehrheit. Zwei Stellungnahmen aus der Nacht vom Sonntag zum Montag, wenige Stunden nachdem die erste Runde der ungarischen Parlamentswahlen zu Ende gegangen war. Wer von den beiden Politikern am Ende recht behalten wird, stellt sich allerdings erst in zwei Wochen heraus, wenn die zweite Runde der Parlamentswahlen stattfindet.

Verantwortlich für die Unsicherheit nach dem ersten Durchgang der ungarischen Parlamentswahlen vom Sonntag sind die beispiellos niedrige Wahlbeteiligung und eines der kompliziertesten Wahlgesetze Europas. Nur wenig mehr als 56 Prozent aller Wahlberechtigten gingen zur Abstimmung. In 2 von den insgesamt 19 ungarischen Kreisen lag die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent. Laut Wahlgesetz muß die Abstimmung deshalb in zwei Wochen – zeitgleich mit der zweiten Runde der Parlamentswahlen – wiederholt werden. Erst dann kann das amtliche Endergebnis des ersten Wahlgangs vom vergangenen Sonntag bekanntgegeben werden.

Fest steht jedoch bereits ein inoffizielles Ergebnis. Die regierende „Ungarische Sozialistische Partei“ (MSZP) erhielt 32,2 Prozent der Stimmen, nur einige Zehntel weniger als vor vier Jahren. Ihr liberaler Koalitionspartner „Bund Freier Demokraten“ (SZDSZ) mußte eine schwere Niederlage hinnehmen und kam auf nur 7,8 Prozent gegenüber 18 Prozent 1994. Großer Wahlgewinner ist die nationalkonservative Oppositionspartei „Bund Junger Demokraten – Ungarische Bürgerpartei“ (Fidesz-MPP), die ihren Anteil von 7 auf 28,2 Prozent steigern konnte.

Die populistisch-nationalistische „Kleinlandwirtepartei“ (FKGP) erreichte 13,7 Prozent. Auch die rechtsextremistische, antisemitische und antieuropäische „Partei der ungarischen Wahrheit und des ungarischen Lebens“ (MIEP) ist mit 5,5 Prozent erstmals im neuen Parlament vertreten. Die orthodox-kommunistische „Arbeiterpartei“ verfehlte die Fünfprozenthürde um nur einige Zehntel. Das Abstimmungsergebnis sagt jedoch aufgrund des gemischten Wahlsystems noch wenig über die Sitzverteilung im neuen Parlament aus, weil die 386 Abgeordneten des ungarischen Parlaments in einem komplizierten System aus Listen und individuellen Kandidaturen gewählt werden, das große Parteien bevorteilt.

Daß die gegenwärtige sozialistische-liberale Koalition ihre Regierungsmehrheit nach der zweiten Wahlrunde am 24. Mai halten kann, gilt eher als unwahrscheinlich. Ebensowenig sicher ist, ob die Jungdemokraten zusammen mit den Kleinlandwirten eine Koalition bilden könnten. Möglicherweise könnte so die rechtsextremistische MIEP zum Zünglein an der Waage werden. Ihren Wahlerfolg kommentierte der ungarische Ministerpräsident Gyula Horn mit den Worten: „Darüber kann sich kein normaler Mensch freuen.“ Der Jungdemokraten-Chef Viktor Orban hingegen bezeichnete die MIEP als extremistisch und schloß eine Zusammenarbeit mit ihr aus.

Für die beispiellos niedrige Wahlbeteiligung bei den bisher insgesamt drei postkommunistischen Wahlen machten die meisten ungarischen Politiker in ihren ersten, von Überraschung gekennzeichneten Stellungnahmen das außergewöhnlich gute Wetter verantwortlich, das am Wochenende überall in Ungarn herrschte. Ungarns Staatspräsident Arpad Göncz hingegen versuchte sich in tiefergehenden Erklärungen. Verantwortlich seien zum einen der selbstverschuldete Autoritätsverlust des Parlaments, zum anderen das Fehlen einer Politik und einer Wahlkampagne, in deren Mittelpunkt die Menschen stünden. Er rief die Parteien dazu auf, diese Faktoren in Zukunft zu berücksichtigen.

Zu einer zukünftigen neuen Regierungsmehrheit wollten ungarische Politiker angesichts der auch in den kommenden zwei Wochen andauernden Wahlkampagne vorerst noch keine Aussagen machen. Die Chefs der bisherigen Regierungsparteien, Gyula Horn und Gabor Kuncze, sprachen sich für eine Fortsetzung der gegenwärtigen Koalition aus. Der Jungdemokraten-Chef Viktor Orban und der Kleindandwirte-Chef Jozsef Torgyan hingegen streben ihrerseits, wie schon vor den Wahlen angekündigt, eine Regierungsmehrheit an. Keno Verseck

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