„Ja, ich bin kitschig!“

Die Leute kommen echt wegen der Musik. Modern Talking gaben ihren Welttourneeauftakt in Berlin. Im Juni werden sie im Kreml spielen  ■ Von Volker Weidermann

Ist der Kanzler schuld? Weil er so geistlos ist und verspricht, was er dann nicht hält? So oder so ähnlich waren die Überlegungen Thomas Assheuers in der letzten Ausgabe der Zeit zu verstehen, in denen er verzweifelt nach Gründen suchte, warum nur, ja warum „der Kult des Trivialen eskaliert“ und sich plötzlich alle Nußecken braten, Verona Feldbusch gucken und Matthäus- Interviews hörenswert finden. Die verdeckte Leerstelle in der Politik würde durch die bekennende Leerstelle im Kulturbetrieb untermalt. Oder, wie Dieter Bohlen auf der Pressekonferenz vor dem offiziellen Modern-Talking-Welttourneeauftakt, zu Guildo Horn befragt, zustimmend zitierte: Jedes Land bekommt den Schlager, den es verdient.

Modern Talking ist wieder da! Das angeblich Gräßlichste, was die 80er musikalisch zu bieten hatten, hat sich wiedervereint und feiert nur wenige Wochen nach Präsentation eines neuen Albums, das fast ausschließlich das alte Liedgut enthält, einen Doppelplatin-Verkaufserfolg und eine nahezu ausverkaufte Welttournee bis nach Südafrika und Rumänien. „Und im Juni“, verkündet Dieter Bohlen, „spielen wir im Kreml.“ Ach? Das kann nicht am Kanzler liegen, wenn der Erfolg sie so weit trägt, aus dem Zentrum der Geistlosigkeit in die Zentren der Macht?

Dieter Bohlen meint, es liegt an was anderem: „Die Leute kommen echt wegen der Musik.“ Am Abend dann auf dem Konzert in der ausverkauften Berliner Max- Schmeling-Halle stellt man fest, daß er recht hat und daß man schon lange kein Konzert mit so ausgelassener Stimmung erlebt hat. Und daß man diese Lieder von damals, die, von den Geschmacksrichtern verworfen, offiziell niemand hören durfte und die sich doch auf rätselhafte Weise millionenfach verkauften, total verdrängt hatte. Superhits wie „Cheri Cheri Lady“, „Brother Louie“ und das von Harald Schmidt schon lange zum Kultsong ausgerufene „Geronimo's Cadillac“ verlangen dringend nach Aufnahme in den offiziellen Partyhitkanon.

Ja, ein Hauch von Abba-Revival-Gefühl durchwehte am Montag den Prenzlauer Berg. Das Schweden-Tralala: In den 70ern und 80ern als stumpfe Prollmusik verworfen, durfte man sich zu diesem schlechtem Geschmack schon Anfang der 90er bekennen. Modern Talking hatten erst Guildo Horn als Wegbereiter nötig, um in der frischen Nische des Worst- taste-Kultes stolz und entschlossen Platz zu nehmen. Da sind Bohlen und Anders sogar schon souverän genug, ihrem größten Fan Harald Schmidt mit einer megaschwuchtelig-eunuchenhaften Version von „Geronimo's Cadillac“ zu danken. Und wenn sich Thomas Anders an den Flügel setzt, um die Superschnulze „Mandy“ nachzujammern, ruft er vorher glücklich aus: „Ja, ich bin kitschig! Ja, ich bin romantisch!“

Dabei ließen die beiden in den Interviews, die sie vor der Premiere gegeben haben, gar nicht darauf hoffen, daß sie sich so selbstbewußt und selbstironisch auf der Schlechter-Geschmack- Welle verorten würden. Eher wie Lothar Matthäus, der beharrlich staatsmännisch zur WM-Teilnahme geschwiegen hat, gaben sich die beiden extrem vorsichtig und selbstkritisch: Thomas Anders sagt, er kann gar nicht glauben, wie er damals ausgesehen hat, das sei ihm heute total peinlich. Und Dieter Bohlen sagt, das mit seinem Auftritt im Jogginganzug damals bei „Wetten, daß...?“, das sei überhaupt nicht okay gewesen. Außerdem werden die beiden nicht müde, gleich Lafontaine und Schröder, ständig ihre Unzertrennlichkeit zu betonen. Ihr Verhältnis sei nunmehr „megageil“ und harmoniere „in erschreckender Weise“. Am Ende des Konzerts hüpfen sie dann sogar festumschlungen wie wild auf der Bühne herum.

Zugegeben, dieses war an diesem Abend noch nicht das trendsettende Vorkultpublikum. Eher so ländlich geprägt. Ein verhuschter Bahnbeamter zum Beispiel in gestreiftem Oberhemd mit Aral- Plastiktüte in der Hand, der so merkwürdig zuckt und aus dem es bei der „Magic Symphony“ plötzlich hervorbricht und der dann losgrölt, besinnungslos, und seine Aral-Tüte über den Köpfen kreisen läßt. Oder Mütterchen in Blumenkleidern und Blusen, schöne Schnäuzerträger und Goldlackhosenblondinen. Altfans zumeist, die ihren Lieblingen über elf Modern- Talking-freie Jahre stets die Treue gehalten haben. Nur die ersten zehn Reihen etwa sind von Neufans besetzt. Doch wenn Dieter Bohlen ruft: „Wollt ihr die Hits? Wollt ihr die Nummer-eins-Hits?“ schreit, da grölt ihm die Halle ein großgemeinschaftliches „Ja, Dieter!“ entgegen.

Na ja, da fühlt man sich dann ein bißchen unwohl. Aber dann kommt „Give me peace on earth“, und Thomas Anders meint dazu, Frieden, das sei das Allerwichtigste auf der Welt, noch ein bißchen wichtiger als die Liebe, und schon ist man wieder beruhigt und weiß, daß man das alles ganz gut finden kann, im freien Bekenntnis zum allerschlechtesten Geschmack.

Und alles wegen Kohl? Der Geistlosigkeit der Macht? Der Schlichtheit des Kanzlers? Aber der war doch schon während der letzten Modern-Talking-Epoche Kanzler, und er scheint nicht wesentlich geistloser geworden zu sein mit der Zeit. Dahinter steckt vielleicht doch noch etwas anderes. Ein allgemeines stolzes Bekenntnis zur Peinlichkeit, eine neue Freude an Unbedachtheit, an Nischen der Unintellektualität, einer postmodernen Entspannung als Glück. – Im Juni im Kreml? – Im Juni im Kreml!