■ CannesCannes
: Angst und Schrecken auf der Croisette

Wie damals wird wieder gestreikt. Damals meint selbstverständlich 1968. Als ein Generalstreik Frankreich lahmlegte. Als die Filmemacher François Truffaut und Jean-Luc Godard in einem Akt der Solidarität den Vorhang zuzogen und das Festival für geschlossen erklärten. Heute sind es die Fischer, die die Barrikade bauen. Wie der Kellner im Restaurant gleich neben meinem Hotel sagt, aus Protest gegen eine geplante Aquazucht vor der Küste von Cannes. Dreißig Jahre nach dem denkwürdigen Abbruch des Festivals ist freilich kaum anzunehmen, daß der Streik irgendwelche Folgen hat.

Statt der Auseinandersetzung mit Politik gibt es nur noch die Auseinandersetzung mit der Figur des Politikers. „Primary Colors“, der Film von Mike Nichols, in dem John Travolta jenen Gouverneur Jack Stanton spielt, der eigentlich Bill Clinton in seiner Präsidentschaftskampagne 1992 meint, eröffnet die 51. Internationalen Filmfestspiele in Cannes. Enden werden sie mit Roland Emmerichs Monstermovie „Godzilla“. Übrigens der einzige große Beitrag eines deutschen Regisseurs. Allerdings hält er als Hollywoodspektakel Einzug.

Ansonsten wirkt die Auswahl eher bedächtig. Mit „L'éternité“ von Theo Angelopoulos, „My Name is Joe“ von Ken Loach, „The General“ von John Borman oder „Fear and Loathing in Las Vegas“ von Terry Gilliam sind die Veteranen am Start. Der Theatermann Patrice Chéreau stellt seinen neuen Film „Ceux qui m'aiment prendront le train“ vor, und auch Carlos Saura ist mit „Tango“ wieder da. Nani Morettis „Aprile“ ist sein Abgesang auf das linke politische Engagement, er hat an die Familienfront gewechselt. Weitere Wettbewerbsfilme sind „Apt Pupil“ von Bryan Singer, John Turturros „Illuminata“, „The Hole“ von Tsai Ming-Liang, Hal Hartleys „Henry Fool“ und „Inquiétude“ von Manoel de Oliveira. Schließlich noch die Dokumentation, die Michael Wilson und der diesjährige Jurypräsident Martin Scorsese präsentieren, „A la recherche de Kundun“.

Spannend könnte es bei Lars von Triers „Die Idioten“ werden, der filmischen Realisation eines ästhetischen Programms. Wie in Le Monde zu lesen war, sieht sich Trier nicht mehr als Künstler und möchte daher auf jeden persönlichen Geschmack verzichten. Sein oberstes Ziel sei es dagegen, erklärte er, den Personen und Orten in seinen Filmen die Wahrheit zu entreißen. Dazu gründete er mit anderen Filmemachern, die sich 1995 in Kopenhagen erstmals zusammenfanden, eine Gruppe namens „Dogma 95“. Es geht ihr um die Bildung einer neuen Avantgarde, um eine Askese, deren Grundzüge – sehr biblisch, sehr fundamentalistisch – in 10 Geboten niedergelegt wurden: 1. Gefilmt wird nur in der realen Welt. Es gibt keine Requisiten und kein Szenenbild. 2. Der Ton darf niemals unabhängig von den Bildern aufgenommen werden. Musik gibt es nur, wenn sie authentisch zum Drehort gehört. 3. Die Kamera muß tragbar sein. 4. Der Film muß in Farbe und bei vorhandenem Licht gedreht sein. 5. Optische Effekte sind verboten. 6. Der Film darf keine überflüssigen, aus rein dramaturgischen Gründen entwickelten Szenen enthalten. 7. Der Film muß hier und jetzt spielen. 8. Modische Mätzchen sind verboten. 9. Format ist 35 mm. 10. Der Name des Regisseurs darf im Vor- und Abspann nicht genannt werden.

Doch so richtig findet der dogmatische Film der Zukunft in Cannes noch nicht statt. Noch werden die Namen Lars von Trier und Thomas Vinterberg, der ebenfalls zu Dogma 95 zählt und hier mit „Festen“ vertreten ist, im Programm genannt. Brigitte Werneburg