Kritik am Bombastischen

■ Der Hamburger Zahnarzt Wolfgang Kaiser bringt mit Postkarten Literatur unters Volk

Pastoren, die surfen. Rennfahrer, die Rosen züchten. Ärzte, die malen. Alles, was die Coca-Cola-Werbung behauptet, ist wahr. Wolfgang Kaiser, praktizierender Zahnarzt in Hamburg, ist nebenberuflich Künstler und Verleger. Mit seinem Verlag „Haus grenzenlos“ will er Literatur „raus aus den Regalen und unter die Leute“ bringen. Zum Medium seiner Schaffenslust hat er sich die Postkarte erkoren.

Biologie und Literatur – diese beiden Interessen hätten ihn zeit seines Lebens bestimmt, sagt der 51jährige heute. Während seines Kunststudiums in den 60ern beschäftigte er sich mit Gold- und Silberschmieden und mit Schriftgrafik. Schon damals faszinierten ihn die Combined Paintings von Robert Rauschenberg, die Gegenstand und Text mit malerischen Mitteln vereinen. Und auch dem sparsamen Imagismus Ezra Pounds, der mit wenigen sprachlichen Pinselstrichen ein Bild zu zeichnen vermochte, fühlte er sich nah.

Doch Kaiser fand bald heraus, daß ihn die Kunst nicht satt machen würde. Weil er zudem unter einer unüberwindlichen Prüfungsangst litt, brach er das Studium ab. Nachdem er sich in verschiedenen Jobs versuchte, brachte er es über den zweiten Bildungsweg Jahre später zur gesicherten Existenz des Zahnarztes. Da besann er sich seiner alten künstlerischen Tugenden. Mit einer Novelle von Anatole France, der er eine Zeichnung von Renate Sautermeister hinzugesellte, fing alles an. „Ich wußte nicht mal, was 'ne Litho ist.“ Trotzdem gründete der drucktechnische Dilettant 1982 seinen kleinen Verlag. Literatur sollte nichts Elitäres sein und in den Bücherschränken vertrocknen. In der Postkarte fand Kaiser das ideale Verbreitungsmedium, um Text und Bild zusammenzuführen. Denn sie sei die materialisierte „Kritik am Bombastischen“: Auf kleinem Raum könne sie eine Facette des Wahren, Schönen fassen, ohne Anspruch auf Vollkommenheit. Und einen Gruß dazu.

Aber vor allem zirkuliere sie, gehe durch die Hände des Versenders, der Adressaten, manches anderen – „Ich war auch mal Briefträger“, sagt der Schelm, „und habe mir Sachen angesehen, die mich nichts angehen.“ Heute umfaßt seine Kollektion 101 Postkarten, schlicht oder mehrfach gefaltet, eine Sammlung vom Aphorismus bis zum Essay. Da kann die Broschur dann schon mal 32 Seiten lang sein, wie bei Peter Hacks' Essay Von der rechten Art mit der Pornographie umzugehen, für den Kaiser die Illustrationen selbst fotografierte.

In ihrer Wechselwirkung steigere sich die Sinnlichkeit von Text und Bild, sagt der Mann, der „alles andere als ein Intellektueller ist“. Das Ergebnis sei im gelungenen Fall mehr als die Summe der Teile. Dabei ist ihm die gefährliche Nähe zum Kunstgewerblichen durchaus bewußt. Doch er hält sie für vermeidbar, wenn die Phantasie des Betrachters und Lesers nicht zu sehr beschränkt wird, getreu dem Wort „Kunst entsteht im Auge des Betrachters“.

Geld verdient Kaiser mit der Postkartenkunst nicht, im Gegenteil: Die Preise decken nicht einmal die Produktionskosten. Lukrativer scheint der neueste Produktionszweig anzulaufen, der unter dem sinnigen Namen „Poesie hautnah“ firmiert: Bedruckte T-Shirts verkaufen sich besser.

Für die Zukunft liebäugelt er mit den Möglichkeiten des Video-Clips. Doch bei aller Begeisterung für die Verbreitung der Botschaft plagt den Idealisten doch ein Gewissensbiß: „Daß man dem ganzen Scheiß, der schon auf der Welt ist, noch etwas hinzufügt. Am liebsten hätte ich eine Null-Maschine, die Dinge ins Nichts befördert.“ Da spricht der Zahnarzt angesichts des kariösen Befalls. Der würde sicher auch Coca-Cola annihilieren. Ansonsten ist ihm die zuckerhaltige Koffeinbrause egal, seinen Rum trinkt er mit Apfelsaft.

Hilmar Schulz